Analyse: Machtkampf nach der „Jasminrevolution“
Paris (dpa) - Kaum ist Ben Ali weg, ist der Machtkampf um seine Nachfolge entbrannt. Der Trabelsi-Clan seiner Frau versucht panisch, sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizei plündert und prügelt. Ob und wann es Neuwahlen geben wird, ist fraglich.
In Tunesien ist der Machtkampf um die Nachfolge des geflohenen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali voll entbrannt. Der von ihm eingesetzte Nachfolger, Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi (69), hat sich gerade mal eine Nacht als Interimspräsident gehalten. Am Samstag erklärte der Verfassungsrat Parlamentspräsident Foued Mbazaa (77) zum Nachfolger von Ben Ali. Ob dieser in der Lage ist, das Land zu beruhigen, ist fraglich. Er ist einer von Ben Alis Vertrauten und gilt als ebenso korrupt.
Immerhin steht jetzt fest: Eine Rückkehr Ben Alis ist ausgeschlossen. „Benavie“ (etwa: Ben auf Lebenszeit), wie die Tunesier den Mann nannten, der sie 23 Jahre lang regierte, hat sich ins Exil abgesetzt. Weil Paris seinen alten Verbündeten am Ende fallen ließ, musste er nach Saudi-Arabien weiterfliegen. Das Land hat ein Herz für gestürzte Diktatoren.
Seine Frau Leila, deren Clan das Land wie eine Krake im Griff hatte, war schon vor Tagen nach Dubai geflohen. Ein Schwager Ben Alis wählte ein statusgerechtes Fluchtmittel: seine Luxusjacht. Andere Verwandte halten sich seit Tagen ausgerechnet in einem VIP-Hotel in Disneyland bei Paris auf.
Einige Familienmitglieder hatten weniger Glück. Sie saßen schon im Flieger nach Lyon, doch der Pilot weigerte sich abzuheben. Die Passagiere hielten sie in Schach, schließlich wurden sie festgenommen. Aufgebrachte Tunesier sollen mit einer Liste der Clan- Mitglieder in den feinen Vororten von Tunis unterwegs gewesen sein und systematisch ihre Villen geplündert haben.
Auffällig ist, dass die Armee sich zunächst ruhig verhielt. Es waren Polizisten, die auf Demonstranten geschossen haben - und das auch dann noch, als Ben Ali offiziell ein Ende der Gewalt angekündigt hatte. Es soll auch die Führung der Armee gewesen sein, die Ben Ali zum Aufgeben gedrängt hat und den Flughafen sperrte, um ihm die Flucht zu ermöglichen.
Die Polizei hingegen wurde nach Ben Alis Abflug zum eigentlichen Unruhestifter: Insbesondere die Präsidentengarde soll an zahlreichen Plünderungen und Zerstörungen beteiligt gewesen sein. Im Internet kursiert der Ratschlag: „Wenn die Polizei klingelt, nicht aufmachen!“ Am Nachmittag nahm die Armee Hunderte Elite-Polizisten des Ex- Präsidenten fest.
Möglicherweise ist Ben Ali ein erstes prominentes Opfer von WikiLeaks geworden. Die Veröffentlichung von US-Depeschen, in denen von korrupten Machenschaften der „Quasi-Mafia“ die Rede war, mag die Tunesier ermutigt zu haben, auf die Straße zu gehen.
Widerstand gegen das Regime gab es schon lange, vor allen unter Exil-Tunesiern. Aber plötzlich schwand die Angst, und es entstand eine Massenbewegung, die vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten hatte. Nun ist wieder von einer „Jasminrevolution“ die Rede, ein ironische Rückgriff auf einen Ausdruck, den Ben Ali bei seinem Amtsantritt verwendet hatte.
Sollte es tatsächlich innerhalb der nächsten 60 Tage Neuwahlen geben, dann muss die Opposition sich mächtig ins Zeug legen, um Kandidaten und Programme zu präsentieren. Tunesien war bislang nur eine Papierdemokratie, Ben Ali ließ regelmäßig Wahlergebnisse von etwa 90 Prozent verkünden. Die Regierung hat alles getan, um die Opposition schwach zu halten, Folter eingeschlossen.