Analyse: Merkels Kampf und Schrammen
Berlin/Brüssel (dpa) - Wer glaubt, mit der Abstimmung über den Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirm ESM habe der Bundestag nun Ruhe, irrt gewaltig. Die Brüsseler Gipfel-Beschlüsse zeigen, dass es jetzt erst richtig los geht.
Die Kanzlerin trägt Blessuren davon.
Es ist 17.28 Uhr am Freitag im Bundestag. Eine knallharte Arbeitswoche neigt sich dem Ende. Jetzt muss Angela Merkel aber noch eine Regierungserklärung zum europäischen Fiskalpakt und zum Euro-Rettungsschirm ESM halten und für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Abstimmung über die beiden hoch komplizierten Vertragstexte sorgen. Gerade flogen noch in ihrer Unions-Fraktion die Fetzen. Vermittelt sie den Abgeordneten nun nicht das Gefühl, dass Deutschland auf dem richtigen Weg zur Euro-Rettung ist, kann ihre schwarz-gelbe Koalition zerbrechen.
Doch die 57-Jährige gibt sich gelassen. Bevor sie ans Rednerpult geht, lehnt sie lässig an ihrem Regierungssessel, die Hand in die Hüfte gestemmt, und plaudert. Dabei müssen ihr die nächtlichen Verhandlungen noch in den Knochen stecken.
Die Ministerpräsidenten von Italien und Spanien, Mario Monti und Mariano Rajoy - in ihren Ländern wegen großer Finanzprobleme massiv unter Druck -, blockierten den Wachstumspakt von 120 Milliarden Euro, von dem sie ja selbst profitieren. Sie wussten, dass Merkel ohne diesen Pakt SPD und Grünen im Bundestag nicht wieder unter die Augen zu treten brauchte - und dass sie ohne die Stimmen der Opposition Fiskalpakt und ESM nicht durchbekommen würde.
Monti und Rajoy verlangten für ihr Ja zum Wachstumspakt von Merkel ein Ja zu einer direkten Finanzhilfe aus dem ESM an marode Banken. Nur hatte Merkels Unionsfraktion genau das zwei Tage zuvor abgelehnt.
Nun erklärt Merkel im Bundestag, dass diese Bankenhilfe nicht gewährt wird, bevor eine internationale Aufsichtsbehörde über die Banken installiert ist. Das soll bis Ende des Jahres geschehen. Damit hat sie ihre Position gestärkt, wonach es eine schärfere Kontrolle der Banken geben soll. Viele Koalitionsabgeordnete fürchten aber, dass das Geld trotzdem leichter verteilt wird. Die Union hatte zudem gefordert, dass der jeweilige Staat für das Geld gerade stehen muss, das sich seine maroden Banken vom ESM besorgen. Doch nun ist die Haftung unklar. Das gibt Merkel noch in Brüssel zu.
Merkel verteidigt aber die Hilfe für Mitgliedstaaten, weil deren Finanzstabilität sonst durch sehr hohe Zinsen gefährdet werden könne. Vielleicht hat sie sich trotzdem in den vergangenen 24 Stunden insgeheim vorgestellt, was eigentlich gewesen wäre, wenn sie hart geblieben wäre: Der Wachstumspakt wäre an Spanien und Italien gescheitert - nicht an Deutschland. Gerade Merkel, der seit langem im In- und Ausland vorgeworfen wird, sie tue zu wenig für das Wachstum, hätte ihn befördert. Damit hätte sie die Direkthilfe für die Banken verhindert. Europa aber wäre wohl weiter in die Krise gerutscht.
SPD-Chef Sigmar Gabriel lobt Merkel zwar für die Wachstumsbeschlüsse, kritisiert aber scharf die mögliche Rekapitalisierung von Banken über den ESM. Der Steuerzahler könne so für deren Spekulationsrisiken in Anspruch genommen werden. Sahra Wagenknecht von der Linken macht den Rundumschlag. Zur Union sagt sie: „Sie stehlen den Armen das Brot, weil Sie zu feige sind, den Reichen das Geld zu nehmen. Halten Sie das für christlich?“ Der SPD wirft sie vor: „Und Sie haben jeder europapolitischen Schandtat zugestimmt.“
Merkel versichert den Abgeordneten dann etwas, was schon vor der Abstimmung als die Lösung für die Zustimmung der breiten Mehrheit gilt - auch wenn es eine parlamentarische Selbstverständlichkeit ist. Merkel weist darauf hin, dass die vorliegenden Vertragstexte zu Fiskalpakt und ESM völlig unabhängig von den Brüsseler Vereinbarungen zu sehen seien. Über die Gipfel-Beschlüsse werde das Parlament gesondert entscheiden. Alle Beteiligten haben dazu auch noch Beratungsbedarf.
Aber um 21.38 Uhr steht fest: Sowohl für den Fiskalpakt als auch für den ESM hat Merkel die Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen - sogar deutlich. Sie spricht von einem parteiübergreifenden Zeichen und „einem Signal für ein Europa, das für uns Zukunft bedeutet“.
Diese Bundestagssitzung ist ein Vorgeschmack darauf, was auf die Abgeordneten nun zukommt: schnelle, regelmäßige, aufreibende und hochkomplexe Beratungen über die Rettung der gemeinsamen Währung. Und zudem ist jetzt auch noch das Bundesverfassungsgericht am Zuge.