Analyse: Nichts gewusst, nichts gehört, nichts gesehen
München (dpa) - Endlich. Endlich ist er da: der Tag, auf den Gamze Kubasik, Ismail Yozgat und all die Angehörigen der NSU-Opfer so viele Jahre gewartet haben. Beate Zschäpe, Hauptangeklagte im NSU-Prozess, will ihr Schweigen brechen, nach fast 250 Verhandlungstagen.
Einige Zuschauer hatten schon über Nacht gewartet, um einen Platz zu ergattern, die Tribüne ist rappelvoll. Und: Mehrere Angehörige sind gekommen. Sie hoffen auf Erklärungen, warum ihre Ehemänner, Väter, Söhne sterben mussten. Doch - diese Erkenntnis wird am Ende dieser denkwürdigen Stunden im Gericht stehen - sie werden keine bekommen.
Alle Augen sind auf Zschäpe gerichtet, als die 40-Jährige um 9.43 Uhr in den Saal gebracht wird. Und das ist neu: Erstmals dreht sie sich nicht weg und den Fotografen den Rücken zu. Vielmehr setzt sich Zschäpe auf ihren Platz, lässt das Blitzlichtgewitter über sich ergehen und plaudert mit ihren beiden Anwälten: Mathias Grasel und Hermann Borchert, der an diesem 249. Verhandlungstag erstmals neben Zschäpe Platz nimmt. Immer wieder lächelt die Hauptangeklagte, die unter anderem wegen Mittäterschaft an zehn Morden vor Gericht steht.
Grasel, Zschäpes neuer, erst 31 Jahre alter Anwalt, steht im Mittelpunkt dieses Vormittages. Er trägt ihre Aussage rund 90 Minuten lang vor, 53 Seiten lang, von ihr persönlich unterschrieben.
Und das ist - zusammengefasst - der Kern von Zschäpes Erklärung: Sie räumt ein, von den Banküberfällen ihrer beiden Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewusst zu haben - mit dem Geld habe man das Leben im Untergrund finanziert. Sie gesteht, die letzte Fluchtwohnung des Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand gesteckt zu haben.
Aber: Sie bestreitet energisch jede Beteiligung an den zehn Morden und den beiden Sprengstoffanschlägen, die die Bundesanwaltschaft dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ vorwirft. Von den Taten habe sie immer erst im Nachhinein erfahren - und sei entsetzt gewesen. Sie habe sich auch nicht als Mitglied einer Terrorgruppe gesehen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Zschäpe stellt sich in den zentralen Punkten der Anklage als unschuldig dar. Ziel ihrer Aussage ist, wie es aussieht, den Vorwurf der Mittäterschaft zu widerlegen. Denn sollte das Gericht sie am Ende tatsächlich als Mittäterin betrachten, könnte sie so verurteilt werden, als hätte sie selbst geschossen: mit lebenslanger Haft, möglicherweise mit Sicherungsverwahrung.
So könnte man Zschäpes Aussage auch als einen letzten Versuch werten, einer Maximalstrafe zu entgehen. Denn: Bundesanwaltschaft und Nebenkläger hatten immer wieder betont, dass sich die Anklagevorwürfe gegen Zschäpe in der bisherigen Beweisaufnahme bestätigt hätten.
Doch so plausibel die Aussage an manchen Stellen klingt, so bizarr wirkt sie an vielen anderen Punkten: etwa, wenn Zschäpe einräumt, von einem Dutzend Waffen in der Wohnung gewusst zu haben: „Ich gewöhnte mich daran, ab und zu eine herumliegende Pistole gesehen zu haben.“
Zuerst aber geht es ausführlich um die Vorgeschichte: Kindheit, Schule, Jugend, Ausbildung zur Gärtnerin. Oder um die zunehmenden Streitigkeiten mit ihrer Mutter. Zschäpe lässt berichten, wie sie zunächst Mundlos und an ihrem 19. Geburtstag Böhnhardt kennenlernte, erst mit dem einen zusammen war und sich dann in den anderen verliebte. Von „nationalistischen“ Liedern ist die Rede, die sie mit ihren Freunden „gesungen beziehungsweise gegrölt“ habe.
Und dann sei sie von den beiden Männern nach und nach immer tiefer in deren Welt hineingezogen worden. Eine Garage als Versteck für Propagandamaterial und Sprengstoff habe sie nur deshalb gemietet, weil Böhnhardt mit ihr Schluss gemacht habe und sie wieder mit ihm zusammen sein wollte. Und auch im Untergrund sei sie dann eher gegen ihren Willen gelandet - nachdem die drei mitsamt der angemieteten Garage aufgeflogen waren.
Dieses Argumentationsmuster zieht sich durch die gesamte Aussage Zschäpes: Sie habe sich ihrem Schicksal gefügt, habe nicht anders handeln können. Zu Beginn - nach dem Auffliegen der Garage - habe sie selbst Gefängnis gefürchtet. Und weil man Geld gebraucht habe, sei sie auch mit dem ersten Raubüberfall „einverstanden“ gewesen. Von einer scharfen Waffe will sie aber schon wieder nichts gewusst haben.
Auch vom ersten Mord, am 9. September 2000 an Enver Simsek in Nürnberg, will Zschäpe erst später erfahren haben. „Ich war geschockt. Ich konnte nicht fassen, was die beiden getan hatten. Ich bin daraufhin regelrecht ausgeflippt“, trägt Anwalt Grasel vor.
Und so geht es weiter: Auch von allen anderen Morden und von den beiden Sprengstoffanschlägen in Köln will Zschäpe vorher jeweils nichts gewusst haben. An einer Stelle ihrer Aussage heißt es: „Ich war unglaublich enttäuscht darüber, dass sie erneut gemordet hatten.“ Einmal hätten ihr die Uwes gleich vier Morde auf einmal gebeichtet. Und nach den tödlichen Schüssen auf die Polizistin Kiesewetter in Heilbronn hätten sie gesagt, es sei nur um deren Waffen gegangen.
Aber warum stieg sie nicht aus? Da argumentiert Zschäpe zum einen, die beiden Uwes hätten ihr mit Selbstmord gedroht, sollten sie von der Polizei gestellt werden. Und zum anderen habe sie sich nach wie vor zu Böhnhardt hingezogen gefühlt: „Ich musste für mich feststellen: die beiden brauchten mich nicht, ich brauchte sie.“
Nach knapp eineinhalb Stunden kommt Grasel schließlich zum Ende - mit bemerkenswerten Sätzen: „Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich zehn Morde und zwei Bombenanschläge nicht verhindern konnte“, trägt der Anwalt im Namen Zschäpes vor. „Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich nicht in der Lage war, auf Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt entsprechend einzuwirken, unschuldige Menschen nicht zu verletzen und nicht zu töten.“ Und dann folgt am Ende noch dieser Satz: „Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Opfern und Angehörigen der Opfer der von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Straftaten.“
Doch diese Angehörigen reagieren mit Wut und Enttäuschung. „Da ihre Aussage eine Lüge ist, akzeptieren wir auch ihre Entschuldigung nicht“, sagt Ismail Yozgat, dessen Sohn die NSU-Terroristen in Kassel erschossen haben. Gamze Kubasik, deren Vater in Dortmund getötet wurde, nennt die Entschuldigung schlicht eine „Frechheit“. Und Abdulkerim Simsek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek, sagt: „Es ist schrecklich. Ich hab keine Worte dafür.“ Und er fügt sogar hinzu: „Wenn sie geschwiegen hätte, wäre es besser gewesen.“
Das Gericht aber wird Zschäpes Aussage nun genau analysieren - und Fragen stellen. Die wollen Zschäpe und ihre Anwälte schriftlich beantworten. Und dann wird der Senat einige Punkte der Aussage überprüfen müssen, voraussichtlich Zeugen noch einmal laden müssen. Auch Bundesanwalt Herbert Diemer kündigt eine sehr genaue Prüfung an, sagt aber auch, die Aussage sei „ein Beweismittel unter vielen“.
Und die zentrale Frage, für wie glaubwürdig es Zschäpes Aussage hält, die wird das Gericht ganz am Ende des Mammutprozesses entscheiden.