Analyse: „Noch viel Spielzeit“ im NSU-Prozess
München (dpa) - Die Zuschauerreihen im NSU-Prozess sind noch immer gut besetzt. Viele junge Leute sitzen dort, einige mit ausländischen Wurzeln, äußerst selten mal jemand, der Sympathien für die Angeklagten zeigt.
Auch auf der Pressetribüne bleibt kaum ein Platz frei.
Die wichtigen überregionalen Medien sind an jedem Verhandlungstag vertreten, aber auch viele Regionalzeitungen schicken regelmäßig Berichterstatter nach München. Ein türkischer Fernsehsender hat sogar eigens einen Korrespondenten eingestellt.
Das Verfahren gegen Beate Zschäpe und die mutmaßlichen Helfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) beherrscht nicht mehr die Titelseiten - doch von mangelndem Interesse der Öffentlichkeit ist im Saal nichts zu spüren. An diesem Dienstag (6. August) ist der 32. Prozesstag, danach macht das Gericht vier Wochen Pause. Wo steht das Verfahren? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt, und auf wen man blickt. Schwierig ist die Antwort aber auch, weil das Gericht zwischen den verschiedenen Tatkomplexen hin und her springt, ohne dass bislang Teile abgeschlossen wären.
BEATE ZSCHÄPE: Es ist eine Art Ritual vor Beginn jeder Verhandlung: Die Hauptangeklagte kommt in den Gerichtssaal, geht zu ihrem Platz und dreht den Fotografen den Rücken zu. Die Versuche, ihren Gesichtsausdruck zu deuten, ihre Frisuren, Ohrringe und Poloshirts zu kommentieren, haben sich weitgehend erschöpft. Generell lässt sich sagen, dass Zschäpe lieber wegschaut, wenn die blutigen Bilder von den Tatorten der NSU-Morde gezeigt werden.
Im Prozess läuft es gar nicht so schlecht für sie. Zschäpe ist als Mittäterin an allen Anschlägen des NSU angeklagt. Sie soll für die legale Fassade des Trios gesorgt haben. Hinweise auf eine konkrete Beteiligung an einzelnen Taten gibt es aber bislang nicht. Der Mitangeklagte Holger G., der im Ermittlungsverfahren einiges über Zschäpes Rolle in der Gruppe gesagt hatte, las vor Gericht nur eine Erklärung vor. Dabei blieb er ein gutes Stück hinter dem zurück, was er in den Vernehmungen zuvor gesagt hatte. Stattdessen wurden die Kriminalbeamten gehört, die G. vernommen hatten. Das ist nicht ungewöhnlich, aber weniger aussagekräftig.
Heikel dürfte für Zschäpe der Brand in der Frühlingsstraße werden. Es besteht kaum ein vernünftiger Zweifel daran, dass Zschäpe die gemeinsame Wohnung der „Zwickauer Zelle“ nach dem Suizid ihrer Kumpanen angezündet hat. Fraglich ist, ob sie dabei bewusst den Tod dreier Menschen riskierte. Die Bundesanwaltschaft geht von Mordversuch aus.
Zwei Handwerker, die normalerweise in der Wohnung oberhalb arbeiteten, hatten schon Feierabend gemacht. Mehrere Zeugen sagten, dass das Haus ziemlich hellhörig war. Zschäpe könnte also gehört haben, dass die beiden weg waren. Dann gibt es noch die 89 Jahre alte Nachbarin. Irgendjemand hat wohl bei ihr geklingelt, bevor der Brand ausbrach. Könnte Zschäpe versucht haben, sie zu warnen? Diese Vermutung hat ein Polizeibeamter in den Akten notiert. „Wenn sich das in der Hauptverhandlung bestätigt, dann ist der Vorwurf des Mordversuchs entkräftet“, meint Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer.
DIE ANDEREN ANGEKLAGTEN: Carsten S. hat an acht Verhandlungstagen ausgesagt, mehr als 26 Stunden lang. Dabei schonte der 33-jährige Neonazi-Aussteiger weder sich noch andere. Er machte sich „nackig“, wie er es selbst formulierte. S. gab zu, dass er im Auftrag des Mitangeklagten Ralf Wohlleben eine Waffe zu den drei Untergetauchten transportiert hatte - wahrscheinlich jene Ceska, mit der Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos neun Menschen ermordeten. Und er führte die Ermittler auf eine völlig neue Spur: Möglicherweise verübten die untergetauchten Neonazis bereits 1999 einen Anschlag mit einer als Taschenlampe getarnten Bombe.
Holger G. hat vor Gericht nur eine Erklärung verlesen. Der 39-Jährige ist wahrscheinlich der Zeuge, der Zschäpe am gefährlichsten werden könnte. Er kannte das Trio über einen langen Zeitraum, er könnte einiges über ihre Rolle in der Gruppe sagen. „Grundsätzlich bleibt Holger G. aussagebereit“, sagt sein Verteidiger Stefan Hachmeister. „Aber er will sich derzeit nicht einer Situation aussetzen, in der ihn 80 Nebenkläger mit fünf Millionen Fragen bedrängen. Man muss bei der Entscheidung auch die Persönlichkeit des Mandanten berücksichtigen.“
Die anderen Angeklagten, der ehemalige NPD-Funktionär Wohlleben und der mutmaßliche NSU-Helfer André E., bleiben vor Gericht stumm. „Die Atmosphäre zwischen den Angeklagten ist kalt“, sagt Hachmeister. E., der auf freiem Fuß ist, soll sich bei seinen Besuchen in München in der rechten Szene bewegen. Auf seiner Brust trägt er die Tätowierung „Die Jew Die“ - „Stirb, Jude, stirb“. In Verhandlungspausen steht er - eher kleinwüchsig und bärtig - manchmal vor Gericht. Meist alleine.
DIE BUNDESANWALTSCHAFT: Die vier Vertreter des Generalbundesanwalts treten vor Gericht mit einem unerschütterlich wirkenden Selbstbewusstsein auf. „Wir sind mit dem bisherigen Verlauf des Prozesses zufrieden“, sagt Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Angaben von Carsten S. und Holger G. hätten die Ermittlungsergebnisse bestätigt. Anträgen von Verteidigung oder Nebenklägern widersprechen Diemer und seine Kollegen regelmäßig - und meist gibt das Gericht ihnen recht. Das Ziel ist klar: Der Prozess soll sich auf die Vorwürfe in der Anklage beschränken und nicht dazu dienen, frühere Ermittlungsfehler aufzuarbeiten.
DIE NEBENKLÄGER: Die Angehörigen der Opfer sind nur noch selten im Gerichtssaal zu sehen. In der Woche vor der Sommerpause kam Semiya Simsek nach München, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers. „Langsam habe ich den Eindruck, es geht voran“, sagte sie. Nach dem Mord war ihre Familie selbst in das Visier der Ermittler geraten. Für Simsek ist es wichtig, dass vor Gericht ausgesprochen wird, dass diese Verdächtigungen haltlos waren. „Da erleben wir gerade eine sehr gute Entwicklung“, meint Anwalt Stephan Lucas. Noch vor einigen Wochen musste er darüber streiten, ob Fragen zu den diversen falschen Fährten - von Drogenhandel bis Schutzgelderpressung - überhaupt zulässig sind. „Wir stellen heute fest, dass bereits der Vorsitzende Richter diese Fragen für sich aufnimmt.“
DER VORSITZENDE RICHTER: Wenn Manfred Götzl Zeugen befragt, hat er das Protokoll früherer Vernehmungen vor sich liegen. Manche Stellen sind mit Leuchtstift markiert, so viel ist von den Zuschauerplätzen zu erkennen. Und oft scheint es, als ginge es Götzl vor allem darum, die für ihn wesentlichen Punkte einer Aussage abzuhaken. Die Neugierde, etwas zu erfragen, was noch nicht in den Akten steht, lässt er nur selten erkennen. Als er Witwe und Schwiegermutter eines Opfer befragen musste, wirkte Götzl eher unbeholfen.
Alles in allem aber hat Götzl den Saal mit den zahlreichen Beteiligten - meist sind etwa 60 Nebenklage-Anwälte da, dazu die fünf Angeklagten mit ihren Verteidigern und die Vertreter der Bundesanwaltschaft - recht gut im Griff. Wird es zu emotional, beruhigt er die Lage mit einer kurzen Unterbrechung. Eine nicht zu unterschätzende Leistung. „Das Klima ist insgesamt nicht konfrontativ“, lobt Bundesanwalt Diemer.
„Ich habe den Eindruck, dass sich der Vorsitzende um eine umfassende Beweisaufnahme bemüht und am Ende eine knallharte Beweiswürdigung vornimmt“, meint Verteidiger Stefan Hachmeister. „Götzl ist ein Ausbund an Gründlichkeit.“ Das bedeutet auch: Der Prozess kann noch eine Weile dauern. Schon jetzt hat das Gericht Verhandlungstage bis Ende 2014 angesetzt. Hachmeister formuliert es so: „Wir haben noch viel Spielzeit vor uns.“