Analyse: Nordkorea demonstriert kollektive Trauer
Seoul (dpa) - Lautes Schluchzen und Wehklagen waren tagelang im vergleichsweise verkehrsarmen und unhektisch wirkenden Pjöngjang zu hören. Die nordkoreanische Hauptstadt war an zahlreichen Stellen Schauplatz kollektiver Trauer, die sich zum Teil bis zur Hysterie steigerte.
Das Staatsfernsehen des abgeschotteten kommunistischen Landes wurde nach dem Tod des langjährigen Alleinherrschers Kim Jong Il nicht müde, die Trauer demonstrativ nach außen zu zeigen. Am Mittwoch dann der Höhepunkt: Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von trauernden Menschen säumten die Straßen, um dem Ex-Diktator das letzte Geleit zu geben.
Menschen schlugen sich dabei mit der Hand auf die Brust und zuckten scheinbar ekstatisch vor Seelenschmerz. Die Medien berichteten von zahlreichen Ohnmachtsfällen unter den Trauernden.
Im Westen reagierte man schon in den vergangenen Tagen auf solche Bilder irritiert. Viele fragen sich angesichts der strikten Reisebeschränkungen, des täglichen Existenzkampfs und der allgemein schlechten Lebensbedingungen im Land, für die Kim Jong Il mitverantwortlich war: Ist das tief empfundene Trauer oder ist sie inszeniert?
Beobachter in Südkorea sagen, dass es sich um ein vielschichtiges Phänomen handele. Man dürfe es nicht mit westlichen Maßstäben sehen. Auch im modernen Südkorea sei das demonstrative Wehklagen als Teil der konfuzianischen Tradition nicht unbekannt. Viele Nordkoreaner sind zudem nach dem Tod Kim Jong Ils - des erst zweiten Machthabers in der Geschichte der Volksrepublik - verunsichert, glauben Experten. Sein jüngster Sohn und Nachfolger Kim Jong Un ist nicht nur unerfahren, sondern weitgehend auch noch unbekannt. In den Medien wird sein Leben schon wie das seiner Vorgänger weitgehend verklärt. So sei er der „vom Himmel gesandte neue Führer“.
„Es kann nicht geleugnet werden, dass sich über das ganze Land eine Trauerstimmung gelegt hat“, sagt etwa der Nordkorea-Kenner Paik Hak Soon vom privaten Sejong-Institut in der Nähe von Seoul. Kim Jong Il war wie sein Vater Kim Il Sung nicht nur oberster Machthaber. Für viele war er auch „Vater der Nation“. Allerdings hatte Kim Jong Il trotz des ihn umgebenden und geerbten Personenkults schon nicht mehr das gottgleiche Ansehen wie sein Vater.
„Viele Menschen bewunderten Kim Il Sung als spirituelles Zentrum“, sagt Kim Tae Jin, der vor mehr als zehn Jahren aus seinem Heimatland Nordkorea geflüchtet und dann über Umwegen nach Südkorea gelangt war. Aber schon als Kim Il Sung 1994 gestorben sei, seien viele Bürger irritiert gewesen, als sie zu öffentlichen Trauerbekundungen gezwungen worden seien, sagt er. Angesichts der Szenen nach dem Tod von Kim Jong Il sei es sein Gefühl gewesen, dass die Massentrauer eine Show gewesen sei - „eine gut organisierte Veranstaltung“. „Ich bin mir sicher, dass einige von ihnen ehrlich trauern. Doch die meisten Menschen trauern, weil sie wissen, dass sie es tun müssen.“
Vier Jahre lang hatte Kim Tae Jin in Nordkorea in einem der berüchtigten Strafgefangenenlager des stalinistisch geprägten Systems gesessen. Den Nordkoreanern werde von früh auf eingebläut, dass das Kollektiv alles sei, sagt er. Sie seien schon als Kind Mitglieder von Organisationen, die dem Erhalt des Systems dienten. Die Arbeiterpartei und andere Organisation nutzten deshalb die Beinflußbarkeit der Menschen, wenn solch ein Ereignis eintreten würde wie der Tod von Kim Jong Il.