Analyse: Obamas Kehrtwende verwirrt die USA
Washington (dpa) - Die amerikanischen Fernsehzuschauer wussten vermutlich gar nicht, wie ihnen geschah. Auf welchen Sender sie auch schalteten, wahrscheinlich sahen sie da ihren Präsidenten sitzen, der über das weit entfernte Bürgerkriegsland Syrien sprach.
Nicht weniger als sechs Interviews gab Barack Obama am Montagabend, alle wurden nahezu gleichzeitig zur publikumsfreundlichsten Zeit ausgestrahlt - das gab es unter diesem Präsidenten noch nie.
Natürlich hatten die Sender ihre besten Journalisten ins Weiße Haus nach Washington geschickt, die schon vieles erlebt haben. Doch was sie dort hörten, war selbst für die erfahrensten Profis eine Überraschung. Denn eigentlich gehörten die Gespräche zur Kommunikationsoffensive der Regierung, um die Bevölkerung und damit den Kongress davon zu überzeugen, grünes Licht für einen Angriff auf das arabische Land zu geben.
Seit Tagen hielten Obamas Gefolgsleute ihre Gesichter in die Kameras und betonten, dass das Regime von Machthaber Baschar al-Assad mit seinem mutmaßlichen Giftgasangriff im eigenen Land mit mehr als 1400 Toten nicht davonkommen dürfe. Noch am Nachmittag hatten Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice und sogar eine reaktivierte Ex-Außenministerin Hillary Clinton frisch formulierte Argumente geliefert. Einen derartigen Werbefeldzug sieht das Land sonst nur zu Wahlkampfzeiten.
Doch plötzlich sprach Obama nicht mehr von Krieg, sondern von Frieden. Natürlich würde er einen Militärschlag auf Eis legen, sollte Assad tatsächlich seine Chemiewaffen unter internationale Aufsicht stellen. Ja, es gebe auch Anlass zur Skepsis, ob ein entsprechender Vorschlag der Russen wirklich ernst gemeint sei und ob die Syrier wirklich mitmachen würden, sagte Obama. Aber dann nahm er Wörter in den Mund, die wenige Stunden zuvor noch kaum jemand für möglich gehalten hätte: „Durchbruch“, „positive Entwicklung“, „Chance auf ein Erfolg“. Das klang nicht mehr nach einem Oberbefehlshaber, der seinen Finger am Abzug hat.
Die große Frage in Washington ist nun: Hat ausgerechnet Kremlchef Wladimir Putin, mit dem er seit Monaten über Kreuz liegt, Obama einen Ausweg aus der vielleicht größten politischen Blamage eröffnet? Medien zählten bei den Parlamentariern sechsmal mehr Nein-Stimmen als Ja-Stimmen. Umfragen verdeutlichten einen erheblichen Widerstand in der Bevölkerung gegen einen neuen Kriegseinsatz - wie klein ihn die Regierung auch redete.
Keiner in der US-Hauptstadt vermochte zu sagen, ob sich Obama jemals wieder von so einer harten Niederlage erholen könne. Der Mehrheitsführer seiner Demokraten im Senat, Harry Reid, war vermutlich ziemlich froh, dass er erstmal eine für Mittwoch geplante Abstimmung verschieben konnte. Völlig unklar ist nun allerdings, was Obama in seiner Rede an die Nation am Dienstagabend (Ortszeit) zu sagen hat. Fachleute rechneten nach den neuesten Entwicklungen jedenfalls nicht mehr mit bedeutenden Worten.
Auch nach der überraschenden Entwicklung von Montag ist die Gefahr für Obama wohl nicht gebannt. Vieles hängt nun von Russland und dem syrischen Regime ab. Doch hätte der Friedensnobelpreisträger möglicherweise für einen Militäreinsatz noch ein Argument mehr, wenn Assad auch das letzte Angebot zur Güte ausschlagen sollte. Es ist vielleicht das entscheidende Argument, denn die Amerikaner lassen sich nicht gern von Diktatoren brüskieren.
Sollte die Rechnung tatsächlich aufgehen, bleibt noch die Frage, ob es sich hier um einen Geniestreich der Regierung handelte oder um einen großen Zufall. Begonnen hatte der Tag nämlich mit einem Satz von Außenminister John Kerry, den seine Presseleute hinterher am liebsten gestrichen hätten. „Sicher, er könnte jedes einzelne Stück seiner chemischen Waffen der internationalen Gemeinschaft innerhalb der nächsten Woche übergeben“, hatte der amerikanische Chefdiplomat mit in die Luft geworfenen Armen gesagt auf die Frage, ob Assad nicht doch noch etwas tun könne. Das sei doch hypothetisch gemeint gewesen, ruderte das Ministerium hinterher zurück. War es das wirklich?