Analyse: Ostdeutsche Diaspora - Papst macht Mut
Erfurt (dpa) - „Keiner soll alleine glauben“, steht auf einer Stoffbahn, die hoch ober an einem Geländer des Erfurter Dombergs hängt. Wenige Meter entfernt steht Papst Benedikt XVI. auf einer Altarbühne und feiert mit etwa 28 000 Menschen die Heilige Messe.
Über dem riesigen Platz liegt am Samstagmorgen eine besondere Stimmung - eine Art fröhliche Stille wechselt sich ab mit vielstimmigen Gebeten und Gesang. Einige der Menschen haben viel auf sich genommen, um dabei zu sein. Sie waren lange unterwegs, sind mit Decken und Verpflegung ausgerüstet. „Das ist ein unfassbares Gemeinschaftserlebnis, das den Aufwand lohnt“, sagt eine Frau, die einige hundert Kilometer Anreise aus Brandenburg hinter sich hat.
Erfurts Bischof Joachim Wanke hat auf das Gemeinschaftsgefühl gesetzt. Mit Benedikt, den Wanke noch aus der Zeit kennt, als er der Theologie-Professor Joseph Ratzinger war, kam erstmals ein Papst nach Erfurt. In der Stadt, die sich vor allem des Kirchenreformers Martin Luthers rühmt, sind die katholischen Christen eine Minderheit - wie fast überall in Ostdeutschland. Wanke ist am Samstag die Freude über den Papstbesuch ins Gesicht geschrieben. „Es ist nicht selbstverständlich, in die Diaspora zu kommen“, sagt Wanke, „das war ein großes Geschenk.“
Zuvor hatte der Papst bei der Messe auf dem Platz vor dem Dom viel Anerkennendes über die katholischen Christen in Ostdeutschland gesagt: Er würdigte ihre Treue im Glauben, ihren Widerstandsgeist während der DDR-Zeit und ihre „Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit“. Er ermunterte sie, sich nicht hinter einem privaten Glauben zu verstecken, „sondern die gewonnene Freiheit verantwortlich zu gestalten“.
Die ostdeutschen Katholiken haben einen schweren Stand. Sie stellen nur vier Prozent der Bevölkerung, in Thüringen mit einer katholischen Hochburg im Eichsfeld sind es knapp acht Prozent. Im Westen liegt der Anteil der katholischen Christen bei etwa 40 Prozent, sagte Detlef Pollack, Professor der Religionssoziologie an der Universität Münster. Den Ostdeutschen bescheinigt er mehr Interesse am kirchlichen Leben: Bis zu 22 Prozent der Katholiken zieht es sonntags in die Gottesdienste, im Westen seien es nur noch etwa 13 Prozent. Die Diaspora sorge für eine stärkere Bindung an die Gemeinden, so seine Diagnose.
Diese Bindung wollte der Papst mit seinem ersten Besuch in Ostdeutschland seit dem Fall der Mauer stärken. Die Gottesdienste, auch der am Freitag in Etzelsbach im Eichsfeld, wirkten wie sorgfältig organisiert Events mit Vorprogramm und riesigen Videoschirmen. Wanke ist danach nicht euphorisch, aber er hat Hoffnung: „Solche Höhepunkte zeigen auch im Leben jedes Einzelnen Wirkung.“ Zuversicht und Mut seien gut „gegen das Gefühl der Vereinzelung“, das in der Gesellschaft grassiere.
Doch auch die ostdeutsche Kirche kämpft mit der Krise. Es fehlen Priester, die Zahl der Mitglieder sinkt. „Es gibt insgesamt einen Prozess der Entkirchlichung“, sagt Pollack. Die Diagnose des Papstes ist ähnlich: „Die Mehrzahl der Menschen in diesem Land lebt mittlerweile fern vom Glauben an Christus und von der Gemeinschaft der Kirche“, sagt Benedikt in Erfurt.
Was der Pontifex dagegen tun kann? Sein Besuch könne eine Ermutigung sein, glaubt Pollack. „Die symbolische Wirkung des Papstbesuchs in der Diaspora ist nicht zu unterschätzen.“ Sie wirke aber vor allem auf die Gläubigen - quasi nach innen als Bestärkung. An der konfessionslosen Mehrheit im Osten, sie stellt etwa 75 Prozent, wird auch der Papst nichts ändern.