Analyse: Peer Steinbrück leidet

Berlin (dpa) - Peer Steinbrück kann nicht mehr sprechen. In seinen Augen sind Tränen, mit dem Finger wischt er unter seiner Brille her. Seine Frau will seine Hand nehmen. Er wehrt ab.

Der Umgang mit ihrem Mann im Wahlkampf sei für sie schwer zu ertragen, hat Gertrud Steinbrück gerade gesagt. Sie könnten zu Hause in Bonn Scrabble spielen, spazieren gehen, viel gemeinsam lachen. Stattdessen habe sich ihr Mann aber für die Kanzlerkandidatur entschieden. „Und dann wird er nur noch verhauen.“

Sonntag, Parteikonvent der SPD im Berliner Tempodrom: Es ist das letzte große Parteitreffen vor der Bundestagswahl am 22. September. Erstmals tritt die Lehrerin hier auf großer Bühne auf. Seit 38 Jahren sind sie verheiratet. WDR-Moderatorin Bettina Böttinger befragt sie. Die Ehefrau sagt in Richtung der Medien, die ihn als Pannen-Peer verspotten: „Es wird immer nur geguckt, wo können wir ihn erwischen“. Sie erkenne ihren Mann in vielen Beschreibungen nicht wieder.

Böttinger fragt den Ehemann: „Warum tun Sie es?“ Gemeint ist die Kandidatur, die Bereitschaft, dem Land zu dienen. Der 66-Jährige kann nicht antworten. Es ist der bisher persönlichste, menschlichste Moment im Wahlkampf - der aber auch sehr nachdenklich macht. Es wird das sichtbar, was Steinbrück umtreibt. Wenn Politiker nur noch als Maschinen gesehen werden, nicht als Menschen, die auch mal Fehler machen, wenn Fettnäpfchen mehr als Inhalte interessieren: Wer soll dann noch in Parteien die demokratische Meinungsbildung organisieren?

Die SPD fühlt sich ungerecht beurteilt, während auf Kanzlerin Angela Merkel vergleichsweise milde geblickt werde. Doch wie will die Partei glaubhaft der Bundesregierung in den drei Monaten bis zur Wahl Misswirtschaft auf allen Feldern vorwerfen, wenn sie selbst immer wieder den eigenen Wahlkampf torpediert. Denn überschattet wird der Auftritt der Steinbrücks von Worten, die im neuen „Spiegel“ stehen.

Es sind nur drei Sätze, die Steinbrücks neuer Sprecher Rolf Kleine als eine seiner ersten Amtshandlungen dem Magazin freigegeben hat. Der erste ist noch harmlos: „Nur eine Bündelung aller Kräfte ermöglicht es der SPD, die Bundesregierung und Frau Merkel abzulösen.“ Der zweite hat es in sich: „Ich erwarte deshalb, dass sich alle - auch der Parteivorsitzende - in den nächsten 100 Tagen konstruktiv und loyal hinter den Spitzenkandidaten und die Kampagne stellen.“ Und der dritte klingt wie eine letzte Warnung: „Situationen wie am vergangenen Dienstag in der Fraktion dürfen sich nicht wiederholen“.

Ein verheerendes Signal: Die wichtigsten Leute liegen über Kreuz. Ein Kanzlerkandidat zweifelt die Loyalität seines Vorsitzenden an. Dabei lautet doch das SPD-Motto für die Wahl: „Das Wir entscheidet.“

Rückblick auf jenen Dienstagnachmittag, Fraktionsebene im Reichstag. Teilnehmer berichten von einer turbulenten Sitzung - aber auch von unterschiedlichen Eindrücken. Mehrere Bundestagsabgeordnete haben nicht wahrgenommen, dass sich Gabriel offen gegen Steinbrück gestellt habe, der für eine Zustimmung zum Regierungsentwurf für eine europäische Bankenunion warb. Gabriel habe Kritikern beigepflichtet, dass ein direkter Zugriff auf deutsches Steuergeld bei der Rettung maroder Banken vermieden werden müsse. Zudem appellierte Gabriel, sich ab sofort im Wahlkampf richtig ins Zeug zu legen. War das ein Affront gegen den unermüdlichen Steinbrück?

Ein Teilnehmer beschreibt die Stimmung als „insgesamt etwas wehleidig und dünnhäutig“. Musste Steinbrück deswegen gleich den öffentlichen Disput suchen? Das Ganze geht wohl tiefer, es wirkt wie eine schleichende Entfremdung. Selten scheint der Wahlkampf im Willy-Brandt-Haus bisher Hand in Hand zu gehen, siehe Gabriels Ruf nach einem Temopolimit von 120 auf Autobahnen.

Kann in knapp 100 Tagen noch zusammenwachsen, was vielleicht nicht zusammengehört? Schon zu Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wird Gabriel ein schwieriges Verhältnis nachgesagt. Steinmeier mag froh sein, nicht Kanzlerkandidat von Gabriels Gnaden geworden zu sein.

Die Erosionserscheinungen in der Troika sind unübersehbar - hält sie zumindest bis zu Wahl? Wie könnte ein Kanzler Steinbrück mit einem Parteichef zusammenarbeiten, mit dem er sich auch beim Konvent wenig zu sagen hat? Der Blick geht bei Steinbrück geradeaus, Gabriel blättert in Papieren. Sie sitzen nebeneinander, schreiten aber nicht Seit an Seit. Gabriel versucht, den Konflikt herunterzuspielen, mit einem etwas ungelenken Satz: „Wir dürfen Euch versichern: Ja, nicht nur die private, auch die politische Ehe von Peer und mir existiert.“ Darauf Gertrud Steinbrück trocken: „Ich muss erstmal damit fertig werden, dass er offenbar in einer Regenbogenehe mit Sigmar ist“.

Vielleicht impft US-Präsident Barack Obama ja am Mittwoch Steinbrück und der SPD ein, wie gewinnbringender Wahlkampf geht. Die Vorzeichen sind aber auch hier eher ungut. Das Weiße Haus kündigte am Wochenende an, nach der Rede vor dem Brandenburger Tor treffe Obama den „Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, Mr. Steinberg“.