Analyse: Schiedsrichter am Pranger
São Paulo (dpa) - Ein Witz! Betrug! Skandal! Sogar Verschwörungstheorien machten nach dem Elfmetergeschenk für Brasilien die Runde.
Die starken Kroaten fühlten sich bei der unglücklichen 1:3 (1:1)-Pleite gegen den Gastgeber zum WM-Auftakt in São Paulo jedenfalls mächtig verschaukelt - und rechneten mit dem japanischen Schiedsrichter Yuichi Nishimura ab.
„Ich bin stinksauer. Mein Team wurde betrogen“, schimpfte Trainer Niko Kovac. „Brasilien braucht keine Hilfe von den Schiedsrichtern. Wir hören besser auf und fahren nach Hause. Das FIFA-Logo ist Respekt, Respekt für beide Teams. Wir haben heute keinen erfahren.“ Und so hat der Fußball-Weltverband (FIFA) bereits nach den ersten 90 WM-Minuten eine heftige Schiedsrichter-Debatte.
„Schande zum Auftakt“, schrieb „The Globe and Mail“, „Nishimura rettete Brasilien“, die „New York Daily News“. Ein verwunderlicher Pfiff von Nishimura war an der ganzen Aufregung schuld. In der 71. Minute ahndete der Unparteiische aus Japan einen harmlosen Zupfer von Dejan Lovren am Trikot des theatralisch zu Boden stürzenden Fred mit Strafstoß. Mit seinem zweiten Treffer verwandelte Neymar den Elfmeter zum zwischenzeitlichen 2:1 für den wenig überzeugenden Rekordweltmeister. Die Entscheidung habe „etwas damit zu tun, dass wir in Brasilien spielen, beim Favoriten“, unterstellte Kovac.
Auch seine Profis fühlten sich nach eigener 1:0-Führung durch das Eigentor von Marcelo um den verdienten Lohn einer couragierten und taktisch disziplinierten Leistung gebracht. „Der Schiedsrichter hat das erste Spiel auf dem Gewissen“, wetterte der ehemalige Schalker Ivan Rakitic. „Das war lächerlich. Ich kann nicht glauben, dass ein einzelner Mensch so viele Fehler machen kann. Das ist schon ein Skandal“, echauffierte sich der Wolfsburger Ivica Olic.
Selbst Kroatiens Premierminister Zoran Milanović sprach hinterher von mehreren „folgeschweren Fehlern“ des Schiedsrichters. Vor der Partie hatte die FIFA Nishimura noch als den erfahrensten Referee Japans angepriesen mit bisher fünf WM-Einsätzen in seiner Laufbahn. Nach dem Eröffnungsspiel witzelten Spötter: Wenigstens die WM-Premiere des Freistoß-Sprays habe der Asiate problemlos abgewickelt.
Der Außenseiter fühlte sich auch bei der Gelben Karte für den überragenden Doppeltorschützen Neymar, der Real Madrids Luka Modric mit dem Ellbogen eine mitgab, ungerecht behandelt. „Das war klar Rot, aber gegen zwölf Mann kann man nicht gewinnen. Wir wurden bestohlen“, erklärte Lovren und forderte die FIFA auf, Nishimura zu sperren. Ein Videobeweis, für den sich FIFA-Präsident Joseph Blatter seit kurzem im Wahlkampf opportunistisch einsetzt, hätte zumindest in beiden kritischen Fällen für Klarheit gesorgt.
Für die erleichterten Brasilianer schien die Angelegenheit aber auch so eindeutig. Ein klarer Elfmeter, sagten Neymar und Co. unisono und versuchten die Kontroverse einfach wegzulächeln. Hauptsache gewonnen. Der WM-Start war schwer genug. „Für mich war es ein Elfer, ich habe die Szene jetzt zehn Mal gesehen“, meinte auch Brasiliens Coach Luiz Felipe Scolari. Er könne die Reaktion von Kovac aber verstehen und hätte in dessen Situation das Gleiche gesagt. Thema abgehakt.
Für die FIFA hat dagegen auch bei dieser WM das Dauer-Ärgernis Schiedsrichter gerade erst begonnen - und das nach den zahlreichen Fehlentscheidungen bei der Endrunde 2010 in Südafrika.