Analyse: Schwarz-rote Quadratur des Kreises
Berlin (dpa) - „Herr Seehofer hat Neuwahlen ...“ - weiter kommt der Reporter erst gar nicht. Angela Merkel quittiert den Versuch einer Frage mit einem freundlichen „Guten Morgen“.
Bis sie am Dienstag an allen Kameras vor der SPD-Zentrale vorbei ist, hat die Kanzlerin mehrfach einen Guten Morgen gewünscht. Der amtierenden Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden ist trotz aller Versuche nicht zu entlocken, ob ihr vor einer Neuwahl genauso wenig bange ist wie dem CSU-Chef - falls es doch nichts wird mit der großen Koalition.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) betont gelassen: „Ich sehe weder die Notwendigkeit noch die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen.“ SPD-Mann Ralf Stegner tut Seehofers Äußerungen, die als Warnung an die SPD vor ausufernden Forderungen verstanden werden, als Wortgeklingel ab: „Der bayerische Löwe brüllt jetzt noch mal.“ Rabatz vor dem CSU-Parteitag an diesem Wochenende sei normal.
So wie es die SPD vor ihrem Parteitag in der vorigen Woche mit dem Abbruch von zwei AG-Sitzungen gemacht hatte. Mit der auf ihrem Parteitag in Leipzig beschlossenen Öffnung für eine rot-rot-grüne Koalition im Bund ab 2017 und der Ansage von Parteichef Sigmar Gabriel, die Union müsse jetzt liefern, sattelte die SPD noch drauf.
Nach der sechsten großen Runde mit vielen Verschiebungen offener Fragen in die kleine Runde der Parteispitzen ist die Stimmung bei den drei Generalsekretären Andrea Nahles (SPD), Hermann Gröhe (CDU) und Alexander Dobrindt (CSU) spürbar gedämpft. Letzterer räumt ein, dass ihm die Verhandlungen zu zäh sind und zu lange dauern. Nahles spricht von einer Quadratur des Kreises, alle Wünsche ohne Steuererhöhungen unter einen Hut zu bringen. Und Gröhe sagt: „Es ist weder kuscheln, noch liefern, noch Radau machen, sondern harte Arbeit.“
Die meisten der zwölf Arbeitsgruppen haben nun ihre Ergebnisse vorgelegt, ab Mittwoch muss das fünfköpfige Redaktionsteam das Ganze zu einem Koalitionsvertrag zusammenbinden. Ganz zum Schluss werden nächste Woche wohl Merkel, Seehofer und Gabriel unter sechs Augen verhandeln. Offen ist, welche Bevölkerungsschicht eine bessere Rente bekommen soll - Mütter, sozial Schwache oder Arbeitnehmer mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren? Oder alle zusammen. Unterm Strich summieren sich die Kosten für alle Rentenpläne langfristig auf etwa 20 Milliarden Euro pro Jahr. Wie das bezahlt werden soll, ist unklar.
Politiker um Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder protestieren in der Runde mit rund 75 Verhandlern dagegen, den Jüngeren immer mehr Lasten aufzubürden, um für Ältere, deren Renten weitaus sicherer sind, jetzt Verbesserungen zu beschließen. Außerdem bekommen sich parteiübergreifend Ossis und Wessis über eine schrittweise Angleichung der Ost- an die Westrenten in die Haare, heißt es danach.
Auch die Höhe des Mindestlohns bleibt wohl ein Thema für die Parteichef-Runde. CDU-Politiker warnen vor der SPD-Forderung nach flächendeckenden 8,50 Euro pro Stunde. Das wäre Wahnsinn für manche ostdeutsche Regionen, weil Arbeitsplätze vernichtet würden, habe Unionsfraktionsvize Michael Kretschmer aus Sachsen gemahnt.
Bei den Roten schwebt über allem das hochriskante Votum der SPD- Mitglieder über den Koalitionsvertrag. „Bei der Gesundheit haben wir noch kein Ergebnis, das wir den Mitgliedern vorlegen können“, sagt der zuständige Experte Karl Lauterbach. Es könne nicht sein, dass kleine und mittlere Einkommen über Gebühr bei den Beiträgen belastet würden. SPD-Fraktionsvize Elke Ferner sagt, wenn das Ergebnis nicht stimme, werde es gar nicht erst den 473 000 Mitgliedern vorgelegt.
Die Union will der SPD wegen des Votums aber keine Bonbons geben, die ihr selbst nicht schmecken. Außerdem bestehen Gröhe und Dobrindt darauf, dass sich das Wahlergebnis der Union von 41,5 Prozent im Vergleich zu 25,7 Prozent der SPD im Koalitionsvertrag widerspiegeln muss.
Scheitern die Verhandlungen jedoch oder das SPD-Votum im Dezember, dürfte das Neuwahl-Thema sehr wohl diskutiert werden. Allerdings gibt es im Grundgesetz hohe Hürden dafür, so dass die Fragen erst einmal lauten würden: Geht die amtierende Kanzlerin erneut auf die Grünen zu? Wenn Schwarz-Grün nicht möglich ist, stellt sie sich dennoch zur Wahl im Bundestag, wo der Union fünf Stimmen zur Kanzlermehrheit fehlen? Oder würde ein Sozialdemokrat zur Wahl antreten? Denn Rot-Rot-Grün hat eine knappe parlamentarische Mehrheit. Trotz taktischer Drohgebärden auf beiden Seiten: eine Neuwahl will niemand.
Vielleicht hilft ja etwas spirituelle Eingebung. Als sich Seehofer mit einem kleinen Mitarbeitertross dem Willy-Brandt-Haus nähert, bleibt einer von ihnen an einem Laternenpfahl stehen und lacht. Die Ankündigung einer Veranstaltung hängt da: „Warum Beziehungen scheitern (und wie sie gelingen).“ Ein Vortrag aus spiritueller Sicht wird versprochen. Zumindest würde diese Veranstaltung Union und SPD nichts kosten: Der Eintritt ist frei.