Analyse: Scolaris bitterste Lehrstunde
Belo Horizonte (dpa) - Selten hat der Herr mit dem grauen Schnauzer und in der blauen Trainingsjacke so verloren ausgesehen am Spielfeldrand. Für Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari geriet das WM-Halbfinale mit dem 1:7 gegen Deutschland zur bitterste Lehrstunde in seiner langen Karriere.
„Felipão“, der „große Felipe“, hat es nicht geschafft, den Traum von 200 Millionen Landsleuten wahr zumachen: Der sechste WM-Titel, der „Hexacampeão“, ist weiter Utopie. Und Scolari blieb nicht nur der zweite Triumph mit der Seleção nach 2002 verwehrt, er ist nun Hauptverantwortlicher für die höchste Niederlage Brasiliens bei einer Fußball-Weltmeisterschaft.
Somit bleibt Vittorio Pozzo, der 1934 und 1938 mit Italien triumphierte, weiter der einzige Chefcoach, der zweimal mit einer Mannschaft Weltmeister wurde.
Scolari hatte beim Antritt seiner zweiten Amtsperiode am 29. November 2012 die Favoritenrolle klaglos übernommen. Eineinhalb Jahre trug er standhaft und humorvoll die enormen Erwartungen Brasiliens für die Heim-WM. Einmal scherzte der 65-Jährige sogar: „Wer war der letzte Trainer, der mit Brasilien die Weltmeisterschaft gewonnen hat? Ich. Wenn ich die WM diesmal nicht gewinne, dann werde das noch immer ich sein.“
Im Estádio Mineirão von Belo Horizonte war dem 65-Jährigen schon nach wenigen Minuten das Lachen vergangen. Zwar ist Scolari beim Heimturnier weitergekommen als seine Vorgänger Carlos Dunga 2010 in Südafrika und Carlos Alberto Parreira 2006 in Deutschland. Doch am Ende ist der Chefcoach der große Verlierer. Die Pleite gegen Deutschland könnte als „Mineirãzo“ in die Geschichte der Seleção eingehen - 64 Jahre nach dem „Maracanazo“, als Brasilien bei der Heim-WM 1950 mit einem 1:2 gegen Uruguay im letzten Spiel den Titel verspielte.
Scolari schaffte es erst nicht, seinen Spielern den Druck zu nehmen. Verkrampft kämpfte sich sein Team durch die Vorrunde. Im Achtelfinal-Krimi gegen Chile hatte er Glück, dass sein Torwart-Oldie Júlio Cesar zwei Elfmeter hielt. Beim 2:1 gegen Kolumbien spielten die Brasilianer erstmals befreiter auf, verloren aber Superstar Neymar (Lendenwirbelbruch) nach einem üblen Foul von Juan Zúñiga.
Der Ausfall setzte dann nicht, wie Scolari erhofft hatte, neue Kräfte frei beim Rekord-Weltmeister. „Dieses Spiel werden wir nicht nur für uns spielen, sondern für das Land, für unser Publikum. Und jeder von uns ist jetzt ein bisschen Neymar“, hatte er gesagt.
Spielerisch aber bot die Seleção bei diesem Turnier viel zu wenig für einen Finaleinzug. Und Scolari konnte dem Team seit dem Confed-Cup-Sieg im vergangenen Jahr keine neuen Impulse geben. Im Gegensatz zu 2002, als ihm Weltklassespieler wie Ronaldo, Rivaldo, Roberto Carlos, Kapitän Cafú und der junge Ronaldinho zur Verfügung standen, fehlt Scolari ausgerechnet jetzt eine herausragende Fußballer-Generation.
Seine Mission ist nun beendet. Scolaris Vertrag läuft - wie es beim brasilianischen Fußball-Verband (CBF) mittlerweile üblich ist - nach dem Endrundenturnier aus. Carlos Alberto Parreira, Weltmeistermacher von 1994, Technischer Direktor und Scolaris enger Vertrauter, glaubt nicht, dass dieser danach wieder ein Traineramt übernimmt. Er werde sich künftig wohl seiner echten Familie widmen. Scolaris Schwiegertochter erwartet den ersten Enkel für „Felipão“. Dem wird er eines Tages ungern von jenem 8. Juli in Belo Horizonte erzählen.