Analyse: Sexuelle Übergriffe auf Frauen gehören zum Alltag
Istanbul/Kairo (dpa) - Für die einen ist es eine Revolution, für andere ein schrecklicher Alptraum. Während die Massen für ein neues Ägypten demonstrieren, kommt es vor allem auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos immer wieder zu öffentlichen sexuellen Übergriffen auf Frauen.
Viele schauen zu, kaum jemand tut etwas. Es fängt mit verbaler Belästigung an und endet im schlimmsten Fall mit einer brutalen Vergewaltigung.
„Frauen sollten den Tahrir-Platz möglichst meiden. Nur ein männlicher Begleiter reicht nicht aus“, lesen sich Twitter-Meldungen an den Tagen der großen Massenkundgebungen. Verschiedene Frauengruppen und Aktivisten wie die „Tahrir Bodyguards“ versuchen die Gegenwehr zu organisieren und patrouillieren, leuchtende Westen tragend, über den Kundgebungsplatz auf der Suche nach Frauen in Not. „Wisst ihr, was sonst noch euren Zorn verdient?“ twittert eine ägyptische Bloggerin wütend. „Massenhafte sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, während ihr euch auf dem Tahrir-Platz schöne Feuerwerke anschaut. Wacht auf.“
In Ägypten gehören sexuelle Übergriffe auf Frauen schon seit vielen Jahren zum Alltag. Doch mit dem Zusammenbruch des Polizeistaats im Arabischen Frühling 2011 haben die Täter - die oftmals straflos bleiben - ihre Hemmungen verloren, auch bis zum Letzten zu gehen. Die Attacken werden immer brutaler. Die andauernde Krise in dem nordafrikanischen Land verschlimmert die Lage weiter.
Das Vorgehen der Männer ist immer gleich: Sie umzingeln eine Frau, trennen sie von ihren männlichen Begleitern, reißen ihr die Kleider vom Leib, begrapschen sie und drängen sie schließlich an abgelegenere Orte. Ein Opfer musste nach Angaben einer Frauengruppe jüngst wegen schwerster Genitalverletzungen sogar operiert werden.
Die Menschenrechtler von Human Rights Watch schlugen Anfang Juli Alarm: Die öffentliche sexuelle Gewalt gegen Frauen habe in Ägypten inzwischen ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Nach Beginn der jüngsten Proteste am 30. Juni seien in wenigen Tagen mehr als 90 Frauen bei Demonstrationen in Kairo Opfer teils schwerster sexueller Angriffe geworden, berichtet die Organisation. „Es handelt sich um schwere Verbrechen, die Frauen davon abhalten, in einem so kritischen Punkt in der Entwicklung des Landes voll am öffentlichen Leben zu partizipieren“, analysiert die Gruppe.
Unter dem Langzeitmachthaber Husni Mubarak wurden solche Übergriffe weitgehend tabuisiert. Ein Film des ägyptischen Drehbuchautors Mohamed Diab aus dem Jahr 2010 mit dem Titel „Kairo 678“ machte jedoch auf die Missstände aufmerksam: Darin geht es um die Kopftuch tragende Faisa, die mit der Buslinie 678 zur Arbeit fährt und dort immer wieder von Männern begrapscht wird. Um die reiche Künstlerin Seba, die nach einem Fußballspiel von einem Mob in der Menge vergewaltigt wird. Und um die Komikerin Nelly, die als erste Frau gegen einen Mann wegen sexueller Belästigung vor Gericht zieht. Sie wehren sich und gewinnen den Machtkampf schließlich.
Im wahren Leben scheint ein Sieg der ägyptischen Frauen hingegen in weiter Ferne. Als besonders bitter dürften etwa die Opfer der sogenannten „Jungfrauentests“ die neue Machtkonstellation im Lande empfinden. Im März 2011 hatten Ärzte unter Androhung oder Anwendung von Gewalt an Demonstrantinnen festgestellt, ob die Frauen noch Jungfrauen waren.
Der damalige Chef des Militärgeheimdienstes verteidigte die Praxis zynisch: Die Frauen hätten gemeinsam mit jungen Männern auf dem Tahrir-Platz campiert, und damit sie nicht später sagen würden, sie seien von Militärpolizisten vergewaltigt worden, habe man eben ihre „Jungfräulichkeit“ geprüft. Dieser Mann hieß Abdel Fattah al-Sisi. Heute ist er Armeechef und der mächtigste Mann in dem Land am Nil.