Analyse: Tell gegen den Rest der Welt
Bern (dpa) - Eigentlich hat die Schweiz ein großes Plus. Sie lockt viele bestens ausgebildete Zuwanderer an. Doch das Volk möchte diesen Strom gezügelt wissen. Es fühlt sich bedrängt und manchmal abgedrängt.
„Es wird eng in der Schweiz.“ Diesen Slogan der Zuwanderungsgegner hat jeder Schweizer im Ohr. Das Unbehagen der Eidgenossen gegenüber ungeregelter Zuwanderung sitzt seit Jahren tief. Überfüllte Busse und Bahnen, Dauerstau, horrende Mieten - all das begleitet den Alltag im Wirtschaftswunderland und mündet im Schlagwort vom „Dichtestress“. Jedes Jahr entsteht rechnerisch eine neue Stadt mit 80 000 Einwohnern. Die anhaltend große Zuwanderung selbst von gut ausgebildeten und dringend benötigten Fachkräften ist den Schweizern nun zuviel geworden.
Mit dem knappen „Ja“ zur Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ drohen dem Land unruhige Zeiten. Denn das Ende der Personenfreizügigkeit verstößt gegen fundamentale EU-Prinzipien. Brüssel hatte schon im Vorfeld mit Konsequenzen gedroht. Sieben Verträge unter anderem zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit stehen auf dem Prüfstand. Darüber hinaus könnte das Signal aus Bern wenige Monate vor der EU-Wahl jenseits der Grenzen Brisanz entfalten.
Er fürchte, dass ein „Ja“ in der Schweiz eine weitere Runde der Freizügigkeitsdebatte in der EU auslösen könnte, warnte der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), kurz vor der Abstimmung in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Radikale könnten das Resultat für ihre Zwecke deuten. Der Ausländeranteil in der Schweiz ist mit 23 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland.
Für die Schweizer Regierung, die seit Jahren eigentlich für eine engere Anbindung an die EU kämpft, ist das Votum ein Schlag ins Gesicht. In den Medien ist von der „größten Ohrfeige“ seit Jahrzehnten die Rede. Das Ergebnis zeigt laut Analysen ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. Die Einwohner in den großen Städten wie Basel, Zürich und Genf haben kein Problem mit der Zuwanderung.
Selten in der Schweizer Geschichte gab es eine derartig wichtige Weichenstellung. Das zeigt auch die mit rund 56 Prozent außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung. Die Regierung und die Wirtschaft reagierten geschockt und ratlos. FDP-Nationalrätin Doris Fiala sprach von ihrer „tiefen Besorgnis“. Möglicherweise habe man Ängste, Sorgen und Nöte der Bürger nicht ernst genug genommen. Jeder dritte Franken wird im Handel mit der EU verdient. Die Schweiz hat - noch - einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Konsumenten.
Bis vor wenigen Wochen sah es laut Umfragen nach einem sicheren „Nein“ der Schweizer zur Initiative aus. Dann mobilisierte laut Analysen ausgerechnet ein Auftritt von EU-Vizepräsidentin Viviane Reding das Lager der Befürworter. Sie kündigte nicht nur eine harte Haltung der EU gegenüber den Eidgenossen an, sondern forderte Unternehmen auf, sich gegebenenfalls die Standortfrage zu stellen.
„Das hat sicher nicht geholfen“, meint der Politologe und Migrationsexperte Michael Hermann von der Universität Zürich. Der Wissenschaftler schwimmt mit seiner Meinung zur räumlichen Enge gegen den Strom. „Dichte ist die Basis für Innovation und Kreativität.“ Dichte sei in einer globalisierten Wissensgesellschaft ein wertvoller Standortfaktor.
Viele Politiker sehen das Pferd von der falschen Seite aufgezäumt. Die Probleme ließen sich mit Infrastruktur- und Städtebau-Politik lösen, aber nicht mit einem Begrenzung der Zuwanderung. Die SVP und ihr Galionsfigur Christoph Blocher machten glauben, „die Globalisierung lasse sich bremsen, indem man sich auf Wilhelm Tell zurückzieht“, sagt der Präsident des EU-Parlaments, Schulz.