Analyse: Tödliche Route übers Mittelmeer
Rom (dpa) - Mohamed und seine Familie hatten Glück. Der Flüchtling aus Palästina hat seine einjährige Tochter Azeel und seine Frau über Wasser halten können, nachdem ihr voll besetztes Boot vor der Küste Libyens kenterte.
„Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, sie zu finden in all diesen Menschen, die versuchten, sich an den Trümmern festzuhalten“, berichtete er italienischen Medien, nachdem er auf einem Schiff der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Sicherheit ist. Mohamed und seine Familien gehören zu den 373 Menschen, die nach dem erneuten Bootsunglück im Mittelmeer gerettet werden konnten.
Nach etwa 200 anderen Menschen, die auch an Bord des Unglücksbootes waren, suchten die Einsatzkräfte am Donnerstag noch, doch die Hoffnung auf Überlebende schwand. Hilfsorganisationen vermuteten, dass zahlreiche Menschen im Frachtraum des Schiffes waren, als das Unglück geschah - ihnen blieb kaum eine Chance. „Die Menschen unten im Lagerraum hatten Panik und schrien, weil sie Angst hatten, dort unten zu bleiben“, sagte ein Augenzeuge der Zeitung „La Repubblica“.
Das gekenterte Boot war völlig überfüllt und kaum seetüchtig - nach Berichten von Augenzeugen stoppte die Fahrt schon nach wenigen Stunden, weil Wasser in den Motorraum eindrang. Die Flüchtlinge riefen um Hilfe und als ein irisches Marineschiff sich näherte, kam es zur Katastrophe. „Alle wollten auf die Seite, von der die Rettungsboote kamen. Dann ist das Boot zur Seite gekippt und gekentert, wir sind alle im Wasser gelandet“, sagte der Überlebende.
„Sie haben Angst. Deshalb reagieren sie auch so, wenn sie Rettung sehen. Es sind sehr verängstigte Menschen“, sagte Melissa Fleming, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, dem TV-Sender Channel 4. Juan Matías, Koordinator bei Ärzte ohne Grenzen auf dem Schiff Dignity I, sagte: „Es war ein schrecklicher Anblick. Menschen, die sich verzweifelt an Rettungsringe, Boote und alles klammerten, die um ihr Leben kämpften zwischen Ertrinkenden und anderen, die bereits tot waren.“
Obwohl die Retter sofort vor Ort waren, konnten von den wohl 600 Menschen an Bord nur etwa 370 in Sicherheit gebracht werden. „Es gibt keine Sicherheitsvorkehrungen, nur wenige von ihnen haben Schwimmwesten, viele können nicht schwimmen“, erklärte Fleming. Mohamed berichtete: „Ich war unter Wasser und sah nur die Köpfe von vielen anderen von uns, die auch gestürzt waren, und die hohen Wellen.“
Immer wieder kommt es zu Flüchtlingsunglücken, vor allem im Kanal von Sizilien. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) zählte bis Ende Juli 2000 Tote in diesem Jahr. Die Route von Libyen nach Italien ist die gefährlichste - auch wegen der Skrupellosigkeit der Schleuser. „Sie sind so rücksichtslos und geldgierig, dass sie eine so große Anzahl von Menschen auf Boote packen, um mehr Profit zu machen“, sagte Fleming. „Auf solchen Booten sollten nicht mehr als 40 oder 50 Menschen sein, und sie quetschen 600 darauf.“
Viele Flüchtlinge sind sich nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen durchaus des Risikos bewusst. „Wenn wir die Menschen fragen, warum sie ihr Leben riskieren, bekommen wir immer dieselbe Antwort: "Es gibt keine Alternative"“, schrieb die Organisation auf Twitter. „Sie kennen die Gefahren und tun es trotzdem. Sie würden lieber bei der Suche nach Sicherheit ertrinken, als in ihrer Heimat oder in Libyen zu bleiben.“
Mohamed und seine Familie hatten Glück, dass die Rettungsboote schon da waren, als ihr Schiff kenterte. Doch die schlimmen Erinnerungen lassen ihn nicht los. „Alle versuchten, sich aneinander festzuhalten, um über Wasser zu bleiben. Eine Mauer zwischen mir und meiner Tochter, während meine Frau nach Luft schnappte“, erzählte er. „Ich musste mich entscheiden und bin untergetaucht. Ich habe unsere Tochter zu fassen bekommen und nach oben gebracht, so dass sie atmen konnte. Etwas, das ich niemals im Leben vergessen werde.“