Analyse: Tunesien fehlt Führungspersönlichkeit
Tunis/Paris (dpa) - Tunesiens Revolutionäre lassen nicht locker: Sie wollen eine neue Regierung, ohne Vertreter der alten Garde. Doch die mehrfach angekündigte Kabinettsumbildung lässt weiter auf sich warten.
Hinter den Kulissen dürfte zäh verhandelt werden.
Der Justizminister verkündete unterdessen, dass der gestürzte Diktator Zine el Abidine Ben Ali, seine raffgierige Frau Leila Trabelsi und einige Familienmitglieder nun international gesucht werden. Ob es hilft, den Zorn der Straße zu besänftigen?
Noch hat Interpol keine „rote Mitteilung“ verschickt, mit denen die Mitgliedsländer darüber informiert werden, dass ein mutmaßlicher Verbrecher gesucht wird. Aber auch wenn dies passiert, muss das zunächst keine Folgen haben. Es ist jedem Land freigestellt, denjenigen dann selber zur Fahndung auszuschreiben. Dass Saudi-Arabien, das Ben Ali fürstlich aufgenommen haben soll, ihn an seine alte Heimat ausliefert, scheint eher unwahrscheinlich.
Die derzeitige Übergangsregierung hatte ohnehin einen Geburtsfehler: Ursprünglich sollte sie 18 Kabinettsmitglieder haben, am Ende waren es über 30. Der Ministerpräsident und fünf Minister auf Schlüsselposten hatten ihre Ämter schon unter Ben Ali inne. Ganz ohne die Erfahrung der bisherigen Minister gehe es nicht, hieß es. Doch im Volk kam die Botschaft nicht an.
„Weg mit der Regierung!“, skandieren Demonstranten immer wieder in Tunis. Der Protest bekam eine neue Dimension, als zahlreiche Tunesier aus den ärmeren Gegenden im Inland anreisten, um in der Hauptstadt ihrem Unmut Luft zu machen. Einige kamen aus Sidi Bouzid, dem Ort, der mittlerweile als Ursprungsort der Revolution gilt.
Dort hatte sich ein junger Mann öffentlich selbst verbrannt. Die Legende machte ihn schnell zu einem Hochschulabsolventen, der sich als Obsthändler durchschlug. Später stellte es sich als übertrieben heraus, doch der 26-Jährige war längst zur Symbolfigur einer enttäuschten Jugend geworden, die in Tunesien keine Perspektive sah.
Abgesehen von dem verzweifelten Selbstmörder fehlt es der tunesischen Revolution bislang an einer Persönlichkeit, hinter der die Massen sich scharen könnten. Die Opposition war von Ben Ali so klein gehalten worden, dass keiner ihrer Vertreter sich als Alternative zu ihm aufdrängt.
Kurzfristig sah es so aus, als könne Heereschef Rachid Ammar diese Rolle einnehmen. Er ist zum Volkshelden geworden, da die Armee während der Unruhen auf der Seite der Demonstranten stand und teilweise auch gegen Ben Alis brutale Polizeieinheiten vorgegangen ist. Doch Ammar machte schnell deutlich, dass er sich an die Verfassung halten werde und keinesfalls die Machtübernahme anstrebe.
Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc - deren Streikbewegung Ben Ali als Botschafter in Warschau miterlebt hatte - hatte ihren Lech Walesa. Auch die tunesische Gewerkschaft UGTT gilt als wichtige Kraft, die im künftigen Tunesien eine größere Rolle spielen könnte. Sie ist landesweit organisiert und gilt im Unterschied zu Ben Alis Einheitspartei RCD nicht als Symbol des verhassten Systems. Einen charismatischen Führer hat sie allerdings nicht.