Analyse: Tunesien - Vorbild oder Schreckensszenario
Kairo (dpa) - Wird die Revolution Tunesien in einen Zustand der Rechtlosigkeit stürzen oder gelingt es Armee und Opposition, rasch wieder für Ordnung zu sorgen? Wenn das Chaos bald endet, könnten die Tunesier zum Vorbild für die Unzufriedenen von Rabat bis Damaskus werden.
Es war kein Putsch und keine vermeintliche Befreiung mit amerikanischen Panzern, sondern eine arabische Revolution. Deshalb hat der Aufstand der Tunesier für Millionen von Arabern, die seit Jahrzehnten unter ihren korrupten Herrschern leiden, Vorbildcharakter. Sollte das Experiment jedoch schief gehen, und sollte es den gesetzestreuen Bürgern und der Armee in den nächsten Tagen nicht gelingen, Plünderungen und Selbstjustiz zu beenden, dann droht ein ähnlicher Katzenjammer wie nach der US-Invasion im Irak 2003.
Damals hatten einige arabische Oppositionsbewegungen im Exil Morgenluft gewittert und sich vorgestellt, dass auch sie eines Tages wie die Iraker mit westlicher Hilfe den Tyrannen daheim stürzen könnten. Doch die Amerikaner ließen damals zu, dass der Irak in Rechtlosigkeit und Terror versank. Die Entwicklung im Irak wurde zum abschreckenden Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man seinen verhassten Diktator stürzt.
„Ein Präsident wird gestürzt ohne Panzer und ohne eine Erklärung des neuen 'Führers'...Dieses Ereignis ist ein Novum in der arabischen Geschichte“, schwärmt ein Kommentator der Zeitung „Al-Hayat“. „Das tunesische Volk hat den Preis für die Freiheit bezahlt (...) und den Tyrannen gestürzt“, lobt die linke ägyptische Karama-Partei. Auch das Al-Kuds-Zentrum für politische Studien in Jordanien glaubt, dass andere Araber von der tunesischen Revolution lernen sollten. Dabei sei eine der wichtigsten Lektionen: „Dass es den Wandel nie gratis gibt, der Wandel kann nicht durch Aufrufe, Erklärungen und Kommentare herbeigeführt werden, denn jeder Wandel in der Geschichte der Menschheit hat seinen Preis.“
Doch nicht nur die Oppositionsbewegungen und die schweigende Mehrheit in der arabischen Welt haben aus dem Sturz des Regimes von Ben Ali ihre Schlüsse gezogen. Auch die meisten arabischen Herrscher beeilten sich - nachdem der erste Schock überwunden war - Position zu beziehen. Einige von ihnen solidarisierten sich mit den Revolutionären - möglicherweise auch, um ein Überspringen des revolutionären Funkens auf ihre eigene Bevölkerung zu verhindern. Das ägyptische Außenministerium betonte, es respektiere den Willen des tunesischen Volkes. Die regierungsnahe syrische Zeitung „Al-Watan“ schrieb: „Die Lektion von Tunesien kann kein arabisches Regime ignorieren.“
Die Einzigen, die sich ohne Wenn und Aber auf die Seite des gestürzten Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali stellen, sind die Saudis, die Ben Ali und seine Familie bei sich aufgenommen haben, und der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi.
Obwohl Gaddafi selbst schon seit mehr als 40 Jahren an der Macht ist, trägt er bis heute den Titel „Revolutionsführer“. Andere Revolutionäre duldet er jedoch ungern neben sich. „Tunesien hat sich jetzt in ein Land verwandelt, das von Banden regiert wird“, schimpft er. „Ich bin schmerzhaft berührt von dem, was in Tunesien geschieht“, sagt er am Samstagabend im libyschen Fernsehen.
Doch nicht nur die arabischen Herrscher wurden vom raschen Abgang Ben Alis völlig überrascht, auch die Islamisten der Region, die seinen Sturz herbeigesehnt hatten, wurden von den Ereignissen überrollt. Zwar begrüßten ihre Führer und Parteien einhellig den Aufstand der Tunesier - von der libanesischen Hisbollah bis zum ägyptischen Fernsehprediger Jussif al-Karadawi. Doch gleichzeitig konnte man ihre Enttäuschung darüber spüren, dass es nicht Islamisten waren, die einen der pro-westlichen arabischen Staatschefs zu Fall gebracht haben.
Die Arabische Liga appellierte an die politischen Gruppen in Tunesien, Ruhe zu bewahren und möglichst schnell zu einer Einigung zu kommen. Mehr kann man von einem Zusammenschluss von Staaten, deren Regierungschefs einander zum größten Teil nicht grün sind, wohl auch nicht erwarten.
US-Präsident Barack Obama, der durch seine Misserfolge als Vermittler im Nahost-Konflikt in der arabischen Welt in den vergangenen Monaten viele Sympathien verspielt hat, konnte dagegen Punkte machen, indem er sich an die Spitze der Bewegung stellte. Er fühlte den Puls der arabischen Straße und lobte den Mut des tunesischen Volkes.