Analyse: Tunesier suchen nach Revolte die Flucht

Tunis/Paris (dpa) - Europa bekommt unangenehme Nebenwirkungen der Revolutionen in der arabischen Welt zu spüren. Weil in Tunesien die Grenzschützer nach dem Sturz von Präsident Ben Ali schlampig kontrollieren, haben Tausende Bootsflüchtlinge die Insel Lampedusa südlich von Sizilien erreicht.

Die italienische Regierung schreit um Hilfe. Und auch in den Nachbarländern wächst die Sorge: Viele geflüchtete Tunesier wollen weiter nach Frankreich oder Deutschland und dort ihren Traum von einem Leben in Wohlstand verwirklichen.

Vorbereitet auf das Problem war scheinbar niemand, auch wenn die Situation vorhersehbar war. Schon vor der Flucht von Zine el Abidine Ben Ali ins Exil hätten Zigtausende Tunesier ihre Heimat nur allzu gerne in Richtung Europa verlassen. In einer Umfrage unter 18- bis 40-Jährigen gaben im Jahr 2006 knapp zwei Drittel der Befragten an, über eine Auswanderung nachzudenken.

Arbeitslosigkeit, schlechte Zukunftsperspektiven und die Vorstellung, in EU-Ländern sei alles besser - das waren damals die Gründe und sie sind es auch heute noch. „Niemand konnte erwarten, dass sich die soziale und wirtschaftliche Situation nach einer Revolution schlagartig ins Positive ändert“, kommentiert Ralf Melzer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis.

Was sich abrupt wandelte, war allerdings die Schärfe der tunesischen Grenzkontrollen. Bis zu seinem Sturz hatte Ben Ali eine Massenflucht effektiv verhindert. Dabei ging es ihm weniger um das Schicksal der Menschen, als um die Gunst der Regierungen in Berlin, Paris oder Rom. Um Tunesien wirtschaftlich voran und näher an die EU zu bringen, tat Ben Ali alles dafür, die Partner auf der anderen Seite des Mittelmeer milde zu stimmen. Und die wollten vor allem eines: illegale Migration verhindern.

Die Übergangsregierung in Tunis hatte in den vergangenen Wochen erst einmal andere Sorgen, als die Arbeit der Küstenwache zu kontrollieren. Mehr als 5000 Tunesier schafften es in den vergangenen Tagen nach Lampedusa. Um zumindest den Hauch einer Chance auf Asyl zu haben, berichten sie von Chaos und Gewalt in ihrer Heimat. „Alles Quatsch - die Gründe für die Migration sind die gleichen wie während der Ben-Ali-Zeit“, kommentiert ein junger Franko-Tunesier in Paris. Frankreich oder Deutschland strahlten eben auch nach der Revolution noch eine große Anziehungskraft aus. In einigen tunesischen Orten sollen 40 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sein. Die landesweite offizielle Quote liegt bei 14 Prozent.

Aus Italien gab es angesichts des Flüchtlingsdramas bitterböse Worte. Innenminister Roberto Maroni äußerte sich empört, dass die neue tunesische Regierung sich offenbar nicht mehr an das Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen halte. Auch aus Deutschland und Frankreich waren am Montag besorgte Stimmen und warnende Worte zu hören. „Tunesien befindet sich in einem Übergangsprozess. Die Konsequenz kann nicht heißen: Flucht. Wir wünschen uns, dass die Übergangsregierung den Menschen sagt: Wir brauchen Euch“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Frankreichs Industrieminister Eric Besson betonte: „Es kann keine Toleranz für illegale Migration geben.“

Die tunesische Übergangsregierung reagierte prompt. Zwar lehnte sie zunächst entrüstet einen Vorschlag ab, dass italienische Einsatzkräfte vor der nordafrikanischen Küste aktiv werden könnten, um den seit Tagen anhaltenden „biblischen Exodus“ einzudämmen. Wenige Stunden später ließ sie allerdings mitteilen, dass der Kampf gegen die Auswanderung wieder im vollen Gange sei. In der Region Gabès sollen Armee und Nationalgarde bereits am Wochenende etliche Fluchtversuche von Tunesiern verhindert haben. Alle Übergangspunkte dort in Richtung Italien seien mittlerweile blockiert.