Analyse: Überraschendes Finale im Pistorius-Prozess
Pretoria (dpa) - Oscar Pistorius weinte hemmungslos, als Richterin Thokozile Masipa überraschend den Vorwurf des vorsätzlichen Mordes ausräumte. Waren es Tränen der Erleichterung die da flossen? Oder wurde der 27-Jährige noch einmal von seinen Schuldgefühlen übermannt?
Pretoria (dpa) - Oscar Pistorius weinte hemmungslos, als Richterin Thokozile Masipa überraschend den Vorwurf des vorsätzlichen Mordes ausräumte. Waren es Tränen der Erleichterung die da flossen? Oder wurde der 27-Jährige noch einmal von seinen Schuldgefühlen übermannt?
Fest steht: Masipa sah nicht genug Beweise für die Version der Staatsanwaltschaft, dass Pistorius absichtlich einen Menschen töten wollte, als er im Februar 2013 durch eine geschlossene Badezimmertür seine Freundin erschoss. Der Showdown im Prozess war da aber noch nicht vorbei, das Urteil noch nicht gefallen.
„Die Frage ist: Konnte der Angeklagte vorhersehen, dass er möglicherweise jemanden töten würde, als er schoss?“, fragte Masipa in ihren Stunden dauernden Ausführungen, die am Donnerstagmittag noch nicht abgeschlossen waren. „Das ist der Schlüssel zu einer Verurteilung wegen Mordes - und die Antwort lautet Nein.“
Pistorius hatte nie bestritten, die 29-jährige Reeva Steenkamp in der Nacht zum Valentinstag des vergangenen Jahres erschossen zu haben. Jedoch habe es sich um einen entsetzlichen Irrtum gehandelt, weil er hinter der Badezimmertür einen Eindringling vermutete, so seine Version des Tathergangs. „Diese Version der Ereignisse hat er mehreren Leuten kurz nach den Schüssen erzählt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er sich die Version eines Einbrechers so schnell ausgedacht hat“, betonte die Richterin vor dem voll besetzten Saal in Pretoria.
Alle waren noch einmal gekommen, um dem Finale des spektakulären Prozesses und der Urteilsbegründung beizuwohnen - neben zahlreichen Journalisten aus aller Welt auch die Familie von Pistorius ebenso wie die Eltern des Opfers. Medien verfolgten jede Regung, jeden Blick und jede Geste des Angeklagten und der Angehörigen bis ins kleinste Detail.
Wie bereits mehrmals während des über sechsmonatigen Verfahrens musste Pistorius immer wieder mit den Tränen kämpfen, so auch als Masipa noch einmal von den schweren Schussverletzungen berichtete, an denen Steenkamp gestorben war. Meist verfolgte er die Ausführungen jedoch still und aufmerksam. Vorsichtshalber hatten Gerichtsmitarbeiter aber einen grünen Eimer in der Nähe der Anklagebank platziert - der Sportler hatte sich in den vergangenen Monaten bei mehreren Gelegenheiten im Saal übergeben, als ihn die Emotionen übermannten.
Masipa untersuchte noch einmal zahlreiche Zeugenaussagen - und schien dabei von Anfang an in Richtung der Linie der Verteidigung zu tendieren. So seien die WhatsApp-Nachrichten, die von der Staatsanwaltschaft als angeblicher Beweis für die kriselnde Beziehung zwischen Pistorius und Steenkamp eingebracht worden waren, irrelevant: „Weder WhatsApp-Nachrichten einer liebevollen Beziehung noch solche einer unglücklichen Beziehung können diesem Gericht helfen.“ Auch an der Glaubwürdigkeit mehrerer Zeugen der Anklage meldete Masipa Zweifel an und bezeichnete sie als „unzuverlässig“. Staatsanwalt Gerrie Nel schaute zeitweise konsterniert zu Boden.
Dennoch glauben Kenner des südafrikanischen Justizwesens nicht, dass Pistorius mit einem Freispruch davonkommt - zumal er sich im Zeugenstand mehrmals in Widersprüche verstrickt hatte. Er sei ein „ausweichender Zeuge“ gewesen, monierte Masipa und fügte hinzu: „Er konnte richtig von falsch unterscheiden, als er schoss. Er hat eine bewusste Entscheidung getroffen, er wusste wo seine Waffe war und wo sich das Badezimmer befand.“
Bei zwei früheren Urteilen, in denen es ebenfalls um Gewalt gegen Frauen ging, hatte die erfahrene Richterin jeweils langjährige Gefängnisstrafen gegen die Täter verhängt. So schickte sie 2009 einen Polizisten lebenslang in Haft, der seine Frau nach einem Streit über eine Scheidungsvereinbarung ermordet hatte. Im vergangenen Jahr verurteilte sie einen Mann zu 252 Jahren Gefängnis, nachdem dieser während einer Serie von Überfällen drei Frauen vergewaltigt hatte. Sie begründete ihre Entscheidung mit einem Mangel an Reue, so dass der Täter kaum rehabilitiert werden könne.
Das war bei Pistorius anders, der bei seinen Gefühlsausbrüchen im Gericht so wirkte, als plagten ihn schwere Schuldgefühle. Dennoch: Schüsse hatte er schon häufiger in der Öffentlichkeit abgegeben, so etwa in einem Restaurant und durch ein offenes Autodach - auch wenn dabei niemand verletzt wurde. Auch für diese illegale Verwendung einer Schusswaffe in der Öffentlichkeit muss sich das einstige Sportidol in Pretoria verantworten. Dafür allein könnte er am Ende zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt werden.