Ungeklärte Schlüsselfragen im Fall Pistorius
Johannesburg (dpa) - Im Prozess gegen Oscar Pistorius tauchten viele ungeklärte Fragen zur Tatnacht auf, die das Urteil von Richterin Thokozile Masipa beeinflussen könnten:
Stritten Pistorius und Reeva Steenkamp vor den tödlichen Schüssen?
Pistorius sagt, das Paar sei nach einem netten gemeinsamen Abend zwischen 21 und 22 Uhr zu Bett gegangen. In der Nacht habe Pistorius zwei Ventilatoren vom Balkon geholt, um das Schlafzimmer abzukühlen. Eine Nachbarin will jedoch einen Streit gehört haben, gefolgt von Schussgeräuschen. Andere Zeugen geben zu Protokoll, keinen Streit mitbekommen zu haben.
Wusste Pistorius, dass Steenkamp im Badezimmer war?
Pistorius sagt aus, er habe ein Geräusch aus dem Bad gehört und daraufhin seine Pistole unter dem Bett hervorgeholt. Dass Steenkamp nicht neben ihm lag, will er nicht bemerkt haben. Die Staatsanwaltschaft stellt das infrage: Warum hätte er nicht seine Freundin wecken und warnen wollen? Die Ermittlungen ergaben, dass Steenkamp stehend hinter der verschlossenen Badezimmertür von den Kugeln getroffen wurde. Dies lasse darauf schließen, dass sie durch die Tür mit Pistorius redete. Auch sei Steenkamp zum Zeitpunkt ihres Todes kurz nach 3 Uhr nachts vollständig bekleidet gewesen und sie habe ihr Handy mit auf die Toilette genommen. Das deute darauf hin, dass sie nach einem Streit gehen wollte.
Hat Steenkamp geschrien? Hätte Pistorius also wissen müssen, dass sie im Badezimmer war?
Eine andere Nachbarin sagt im Prozess aus, sie habe in der Tatnacht aus dem Haus von Pistorius die Schreie einer Frau gehört, gefolgt von einer Reihe lauter Knallgeräusche. Ihre Aussage wird von ihrem Ehemann gestützt. Die Verteidigung dagegen sagt, die Schreie stammten von Pistorius, nachdem er erkannt habe, dass er auf Steenkamp geschossen hatte. Die Geräusche habe ein Cricket-Schläger erzeugt, mit dem Pistorius die Tür eingeschlagen haben soll.
Wann hat Steenkamp das letzte Mal gegessen?
Laut Staatsanwaltschaft ergaben Untersuchungen, dass Steenkamp in der Tatnacht noch gegen 1 Uhr Morgens etwas gegessen hat. Dies stehe im Widerspruch zur Aussage Pistorius', wonach das Paar früh zu Bett gegangen sei. Ein von der Verteidigung beauftragter Experte wiederum bezweifelt die Aussagen der Polizei-Forensiker: Es sei nicht möglich, exakt zu bestimmen, wann Steenkamp das letzte Mal aß.
Wollte Pistorius die Person hinter der Badezimmertür töten?
Die vier Einschusslöcher in der Tür lagen dicht beieinander - für die Staatsanwaltschaft ein Beleg, dass Pistorius gezielt und mit der Absicht zu töten schoss. Ein Zeuge der Verteidigung gibt zu Protokoll, der unterschenkelamputierte Pistorius habe die Schüsse aus einer Abwehrreaktion heraus abgefeuert, die mit seiner überzogenen Angst wegen seiner Behinderung und der Kriminalität in Südafrika zu erklären sei.
Hat die Polizei am Tatort gepfuscht?
Die Verteidigung spricht von einem stümperhaften Vorgehen der Polizei bei der Tatort- und Beweissicherung. Gegenstände seien umgestellt oder entfernt worden. Dies habe zu verwirrenden Angaben über die Lage von Gegenständen im Haus geführt - eine Erklärung für Widersprüche in Pistorius' Aussagen. Die Staatsanwaltschaft erwidert, warum dessen Anwälte diese Einwände nicht sofort erhoben hätten. Sie verweist auf Ungereimtheiten in den Aussagen des Paralympics-Stars. So habe er erst von einem Ventilator gesprochen, später dann von zweien.
Neigte Pistorius zu Gewalt und ausfallendem Verhalten?
Die frühere Freundin von Pistorius, Samantha Taylor, gibt zu Protokoll, ihr Ex sei anfällig für Wutanfälle gewesen. In einer von Steenkamps WhatsApp-Nachrichten an Pistorius hieß es, sie habe manchmal Angst vor ihm. Die meisten Nachrichten, die das Paar ausgetauscht hatte, waren jedoch liebevoll. Die Staatsanwaltschaft betont, Pistorius habe zwei Mal öffentlich eine Waffe abgefeuert. Das deute auf Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit hin.