Analyse: Ukrainer müssen in den Krieg gegen die „Terroristen“
Kiew (dpa) - Die fast 300 Opfer des Todesflugs MH17 in der Ostukraine sind kaum geborgen, da bläst Kiew zur Verstärkung für den Bürgerkrieg. Zu Zehntausenden sollen junge Männer und Reservisten in den blutigen Kampf ziehen gegen die prorussischen Separatisten.
Eine bisher beispiellose Teilmobilmachung läuft. Es gehe um den Schutz der Unabhängigkeit der Ukraine, erklärt Präsident Petro Poroschenko zu seinem landesweiten Einberufungserlass. Mehr als zehn Millionen Männer gibt es in den betroffenen Altersstufen bis 60 Jahre.
Verhandlungen über einen Frieden mit den von Moskau unterstützten Kräften lehnt der proeuropäische Staatschef ab. Poroschenko, vereidigt Anfang Juni, war angetreten mit dem Versprechen, dem Land Frieden zu bringen. Nun setzt er weiter auf Waffen. Die blutigen Kämpfe in den Regionen Donezk und Lugansk gehen weiter - ungeachtet der Arbeit von Spezialisten, die im Konfliktgebiet den Absturz der Boeing 777-200 vom vergangenen Donnerstag aufklären wollen.
Poroschenko hofft mit der ersten Teilmobilmachung seiner Amtszeit auf den immer wieder versprochenen schnellen Sieg gegen die „Terroristen“ (so die Sprache der Regierung) im Osten. Auch im März und im Mai hatte es Einberufungen gebeben. Doch frühere Versuche, die männliche Bevölkerung zum Kampf zu zwingen, scheiterten auch daran, dass viele Männer sich freikauften. Zwischen 350 und mehr als 1000 Euro sollen Offiziere in Wehrkreisersatzämtern für eine Zurückstellung kassieren.
Zwar kämpfen in der Nationalgarde und Privatbataillonen von Oligarchen Freiwillige. Der Zustand der Armee gilt aber als erbärmlich. Viele Soldaten klagen sogar über Mangel an Wasser, Nahrung und vor allem über schlechte Kampfausrüstung. Vielfach fehlen Schutzwesten. Aktivisten berichten, dass vieles von Privatinitiativen gesammelt und unter Lebensgefahr an die Front gebracht werde.
Ungeachtet einer kaum vorhandenen Grundversorgung sollen nun die neuen Einberufungsbefehle verschickt werden. Poroschenkos Mobilmachung dürfte auch damit zusammenhängen, dass nach massiven Verlusten der Regierungseinheiten dringend neue Kräfte gebraucht werden. Im Konfliktgebiet kämpfen prorussische Separatisten weiter für eine Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.
Doch immer mehr Ukrainern missfällt, dass ihr Land nach den proeuropäischen Protesten, die im November vorigen Jahres in Kiew begonnen hatten, immer tiefer im Kriegsgeschehen versinkt. Viele früher Einberufene sind inzwischen seit mehr als vier Monaten im Kampfeinsatz. Ihren Familien fehlen die Einkommen der Männer, zumal der Sold von umgerechnet etwas mehr als 150 Euro nur unregelmäßig kommt. Viele können Kredite für Wohnung oder Auto kaum noch bezahlen.
In den westlichen Landesteilen, die einen Großteil des Blutzolls zu zahlen haben, mehren sich Berichte über verärgerte Angehörige. Sie blockieren Kasernen und Straßen, um den gefürchteten Fronteinsatz der Männer zu verhindern. Die Todeszahlen gehen wohl in die Tausende. Den offiziellen Angaben zu den Opferzahlen glaubt kaum jemand in der Ukraine. Sicherheitsratschef Andrej Parubij bezifferte die Verluste der Regierungstruppen zuletzt auf „mehr als 300 Mann“. Viele sehen darin bloße Schönfärberei.
Unklar ist, wie die chronisch klamme Ex-Sowjetrepublik die Kosten für die Teilmobilmachung bezahlen will. Finanzminister Alexander Schlapak meint, die „Anti-Terror-Operation“ koste rund 1,5 Milliarden Griwna (etwa 94 Millionen Euro) - jeden Monat. Die aktuellen Reserven von knapp 32 Millionen Euro würden demnach für den Krieg noch bis Ende nächster Woche reichen. Die von der Bevölkerung seit März gespendeten mehr als acht Millionen Euro fallen da kaum ins Gewicht. Der russische Präsident Wladimir Putin kritisierte unlängst, dass die für Reformen gedachten Hilfsgelder des Internationalen Währungsfonds (IWF) an die Ukraine illegal für den Krieg ausgegeben würden.