Analyse: Umstrittener Schlag gegen den „tiefen Staat“

Istanbul (dpa) - Lebenslang für den Ex-Armeechef: Mit harten Strafen ist der „Ergenekon“-Prozess in der Türkei um angebliche Putsch-Pläne zu Ende gegangen. Kritiker sprechen von einer Hexenjagd gegen politische Gegner von Ministerpräsident Erdogan.

275 Verdächtige waren angeklagt, fünf Jahre dauerte der Prozess, fast 40 000 Seiten sollen die Gerichtsakten am Schluss umfasst haben. Am Montag endete in Silivri bei Istanbul das Marathon-Verfahren gegen den mutmaßlichen Geheimbund „Ergenekon“, dem terroristische Putschpläne gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgeworfen wurden. Unter den Angeklagten waren ranghohe Militärs wie der Ex-Generalstabschef Ilker Basbug, aber auch Wissenschaftler, Politiker und Journalisten. 21 Beschuldigte sprach das Gericht frei. Basbug - der seine Unschuld beteuert hatte - und viele andere Angeklagte wurden dagegen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Regierungsanhänger sahen in dem „Jahrhundertprozess“ eine überfällige Abrechnung mit dem sogenannten tiefen Staat in der Türkei - einem ominösen Staat im Staate, der sich aus demokratiefeindlichen Kräften unter anderem aus dem Militär zusammensetzen soll. Mehrfach hat die Armee, die sich als Hüter des säkularen Erbes von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk versteht, seit 1960 geputscht. Erdogan hat die Macht der Militärs in seiner zehnjährigen Amtszeit dramatisch beschnitten. Der „Ergenekon“-Prozess - Ergenekon ist ein Ort aus der türkischen Mythologie - hat die Armee weiter geschwächt.

Zuletzt zeigte sich beim Umsturz in Ägypten, wie dünnhäutig die islamisch-konservative Regierung in Ankara beim Thema Militär immer noch reagiert. Erdogan gehörte zu den schärfsten Kritikern der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo. Der türkische Regierungschef warf besonders der Europäischen Union vor, die Vorgänge am Nil nicht bei ihrem wahren Namen zu benennen: Nach seiner festen Überzeugung handelte es sich in Ägypten um einen klaren Militärputsch gegen eine demokratisch gewählte Regierung - ein Wort, das die EU und auch die USA vermieden.

Kritiker warfen der türkischen Regierung vor, mit dem „Ergenekon“-Prozess nicht nur gegen den „tiefen Staat“ vorzugehen, sondern das Verfahren zu einer Abrechnung mit politischen Gegnern zu missbrauchen. Seinen Ursprung hatte der Prozess in dem Fund von Handgranaten in einem Haus in Istanbul im Jahr 2007. Vermeintliche Planspiele der Armee, mit Anschlägen im Land Chaos zu stiften und so einen Vorwand für einen Militärputsch zu liefern, ließen wenig später bei der Erdogan-Regierung alle Alarmglocken schrillen.

Im Laufe der Jahre wurden in dem Verfahren allerdings immer mehr Fälle und Beschuldigte zusammengefasst, die alle im weitesten Sinne das Ziel gehabt haben sollen, die Regierung zu schwächen oder zu stürzen. Militärs, Akademiker, Geschäftsleute, Journalisten und Oppositionspolitiker gerieten auf diese Weise in die Mühlen der Justiz. Beobachter bemängelten fragwürdige Beweise und Widersprüche im Verfahren.

Die Regierung verwies ihre Kritiker auf die Unabhängigkeit der Gerichte. Doch an der gibt es immer wieder Zweifel. Die Zeitung „Cumhuriyet“ meinte vor Prozessende am Montag, das Gericht werde Urteile verkünden, die bereits zu Beginn des Verfahrens festgestanden hätten. Im Zusammenhang mit einem anderen (und von „Ergenekon“ unabhängigen) Prozess gegen den türkischstämmigen Kölner Autor Dogan Akhanli sprach der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir kürzlich von einer „offensichtlich politisch motivierten türkischen Justiz“.

Dass die demokratisch gewählte Erdogan-Regierung wenig Verständnis für Kritiker hat, zeigt sie seit Ende Mai bei den Protesten im Land. Erst am vergangenen Samstag setzte die Polizei in Istanbul wieder Tränengas, Wasserwerfer und Plastikgeschosse gegen Demonstranten ein - mitten auf der auch von ausländischen Touristen besuchten Einkaufsmeile Istiklal Caddesi. Junge Türken und - wie auf einem Youtube-Video zu sehen ist - auch ganz gewöhnliche Restaurantbesucher wurden willkürlich festgenommen. Zugeständnisse macht Erdogan seinen Gegnern nicht, im Gegenteil. Erst vor kurzem verglich er die Demonstranten in seinem Land mit „erbärmlichen Nagetieren“.