Analyse: Vertrauen ins Internet ist erschüttert

Berlin (dpa) - Eigentlich könnte die deutsche Internetbranche hoffnungsvoll in die Zukunft sehen. Das Geschäft läuft gut, der Branchenverband eco rechnet in den kommenden vier Jahren jeweils mit einem Wachstum von mehr als 10 Prozent und zehntausenden neuen Arbeitsplätzen.

Doch die Enthüllungen über die Überwachung der Online-Kommunikation durch amerikanische und britische Geheimdienste berühren auch deutsche Internetfirmen - und hinterlassen viele offene Fragen bei den Anwendern. „Man kann diese Verunsicherung eigentlich nur über Aufklärung lösen“, sagt eco-Geschäftsführer Harald Summa.

Internet-Anwender in Deutschland fürchten nicht nur eine massive Verletzung ihrer Bürgerrechte. Insbesondere die gigantischen Ausmaße des britischen Schnüffelprogramms „Tempora“ lassen viele vermuten, dass es den Geheimdiensten GCHQ und NSA nicht nur um den Kampf gegen Terroristen oder das Organisierte Verbrechen geht, sondern um das wirtschaftliche Wohlergehen der Briten und Amerikaner.

Auch Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, denkt bei der Beurteilung der anglo-amerikanischen Abhöraktionen in diese Richtung: „Da nicht hinter jedem Baum ein mutmaßlicher Terrorist lauert, hat in Wahrheit die gute alte Wirtschaftsspionage ein neues prächtiges Gewand bekommen“, sagte sie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Der Verdacht der systematischen Wirtschaftsspionage könnte das Geschäftsmodell der Internet-Konzerne gefährden. Gerade die US-Unternehmen, die als erste mit den Abhörprogrammen in Verbindung gebracht wurden, fordern seit den ersten Berichten eine umfassende Aufklärung. Allen voran läuft Google Sturm gegen die Vorgaben der Geheimhaltung, die es den betroffenen Firmen verbieten, eigene Informationen über ihre Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten zu veröffentlichen.

Der Internetkonzern fürchtet nicht zuletzt um den eigenen Umsatz. „Das Ansehen und das Geschäft von Google haben durch die falschen oder irreführenden Medienberichte Schaden genommen und die Google-Nutzer sind besorgt über die Vorwürfe“, schrieb Google an das geheime US-Gericht, das Anfragen nach dem Auslandsspionagegesetz FISA freigibt.

Microsoft, Facebook, Apple und Yahoo forderten ebenfalls mehr Transparenz und durften schließlich allgemeine Zahlen zu den Anfragen von US-Regierungsstellen veröffentlichen. Das Online-Netzwerk Twitter schloss sich ihren Forderungen an. Twitter war im Gegensatz zu den anderen Firmen nicht als Partnern in dem US-Programm mit Namen „PRISM“ genannt wurden. Auch Amazon tauchte dort bislang nicht auf, obwohl die Firma als Anbieter von Speicherplatz ein interessantes Ziel für Geheimdienste abgäbe.

Für deutsche Anbieter könnte die Vertrauenskrise der Internet-Wirtschaft auch eine Chance sein. Denn gerade im Geschäft mit Speicherplatz und sogenannten Cloud-Diensten erwartet die Branche ein schwungvolles Wachstum. Bei Cloud-Angeboten werden Daten nicht auf dem eigenen Computer, sondern in Rechenzentren gespeichert, die weit entfernt liegen können. Hier ist das Vertrauen der Nutzer in die Sicherheit ihrer Daten also besonders wichtig - und nun empfindlich beschädigt.

Unternehmen „müssen sich bewusst sein, dass ausländische Dienste möglicherweise da mitlesen“, sagte Deutschlands oberster Datenschützer Peter Schaar im „heute journal“. „Sie müssen sich sehr gut überlegen ob sie zum Beispiel Daten in der Cloud speichern, jedenfalls soweit diese Cloud sich außerhalb von Deutschland befindet.“ Gerade Wirtschaftsunternehmen, aber auch Bürger, nähmen den Schutz vor Ausspähung ernst, sagte der Datenschutzbeauftragte.

Das könnte europäischen und deutschen Cloud-Anbietern Aufwind geben, hofft Verbandsmann Summa. Doch eine „europäische“ oder gar „deutsche Cloud“ ist nicht einfach umzusetzen. Das Internet funktioniert dezentral, Datenströme nehmen nicht immer den geografisch kürzesten Weg. So könnten auch Daten deutscher Cloud-Anbieter durch internationale Glasfaserkabel fließen und so anzapfbar werden.

Folglich haben Branchenvertreter und Politiker gemeinsame Regeln für Datenschutz und gegen Überwachung als Lösung ausgemacht. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FPD) betont immer wieder, die Enthüllungen gäben Bemühungen um einheitlichen Datenschutzregeln in Europa neuen Nachdruck.

Auch das Wirtschaftsministerium fordert internationale Vereinbarungen. Neben europäischen Regeln „brauchen wir dringend auch eine Harmonisierung mit den Amerikanern“, sagte der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto Mitte Juni. Eine Begrenzung der Datenweitergabe wurde allerdings aus dem Entwurf für die EU-Datenschutzverordnung gestrichen - auf Druck der US-Regierung, wie es in Brüssel heißt.