Analyse: Wie die Krim die Welt auf den Kopf stellt
Berlin (dpa) - Für ukrainische Nationalisten und Kreml-Gegner besteht kein Zweifel: Das militärische Eingreifen auf der Krim hat Russlands Präsident Wladimir Putin von langer Hand vorbereitet.
Während die Welt auf die Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi blickte, habe der Kreml klammheimlich seine Truppen auf die Invasion vorbereitet. Bestätigt sieht sich mancher durch ein Werbeplakat des russischen Verteidigungsministeriums an Bushaltestellen in Moskau. Ein Soldat im Tarnanzug ist darauf zu sehen. Der stolze Rekrut posiert vor einem Hügel am Meer, der auf verblüffende Weise dem malerischen Bärenberg an der Ostküste der Krim ähnelt.
Das Aufmarschieren tausender russischsprachiger Uniformierter auf der Schwarzmeer-Halbinsel hat die schwerste Krise mit dem Westen seit dem Zerfall der Sowjetunion ausgelöst. Putin selbst hatte den Zusammenbruch des sozialistischen Imperiums einst als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Nun setzt er sich über alle völkerrechtlichen Verpflichtungen hinweg und bricht einen geopolitischen Konflikt vom Zaun, den im Europa des 21. Jahrhunderts kaum mehr jemand für möglich gehalten hätte.
„Putin der Eroberer“ holt Russland zumindest das Ferienparadies der Sowjetunion zurück. Die Nationalisten in der Heimat jubeln, der Westen wirkt auch Tage später noch starr vor Schock. Kehrt der Kalte Krieg zurück?
In der Tat erleben die alten Bedrohungsszenarien eine Wiedergeburt. Doch dieses Mal ist es anders als beim Einmarsch sowjetischer Truppen 1956 in Ungarn, 1968 in Prag oder 1979 in Afghanistan. Die Menschen auf der Krim bejubeln mehrheitlich das Eingreifen des Kremls. Für sie sind die Sicherheitskräfte in den Tarnanzügen ohne Abzeichen „Brüder“ - ganz wie in der alten Sowjetpropaganda.
Und so stellen nicht islamische Extremisten oder arabische Diktatoren die USA und die Europäische Union vor die vielleicht schwerste Herausforderung des Jahrzehnts, sondern das Schicksal einer fast vergessenen Halbinsel mit subtropischem Palmenstrand. Für die USA ist die Marschrichtung in Fällen wie diesen klar: Washington will klare Kante zeigen, droht mit Sanktionen und versucht, den historischen Widersacher Russland international zu isolieren.
US-Präsident Barack Obama dürfte Putins Vorgehen als Provokation empfinden. Nach der ausdrücklichen Warnung Obamas vor den Folgen eines militärischen Eingreifens auf der Krim wartete der Kremlchef nicht einmal 24 Stunden mit dem Beginn seiner Intervention. So sieht es zumindest die US-Regierung. Nach Ansicht des US-Diplomaten Nicholas Burns muss Obama nun das Kommando übernehmen. „Das ist die wichtigste und schwierigste außenpolitische Prüfung seiner Präsidentschaft“, sagte Burns der „New York Times“.
Die Europäische Union und vor allem Deutschland tun sich mit einer entschiedenen Haltung gegenüber Russland deutlich schwerer. Wenn in Washington von „roten Linien“ die Rede ist, zucken in Europa viele zusammen. Denn wer „hopp“ ruft, muss irgendwann auch springen. Beim Ringen um eine internationale Antwort auf den Giftgaseinsatz in Syrien blieb die US-Regierung letztlich weit hinter ihren Drohungen zurück. Zudem zeigten die Sanktionen gegen das Regime von Baschar al-Assad längst nicht die erhoffte Wirkung.
So leicht manchem die Forderung nach Sanktionen auch über die Lippen geht, ihre Umsetzung dürfte ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang sein. Immerhin ist Russland der wichtigste Gaslieferant der Europäischen Union. Zudem verfügt das Land dank der hohen Energiepreise weltweit über die dritthöchsten Devisenreserven von zuletzt etwa 500 Milliarden US-Dollar (362 Milliarden Euro). Auch wenn die wachstumsverwöhnte russische Wirtschaft zuletzt etwas schwächelte, bleibt das Riesenreich nicht nur für die deutsche Exportindustrie ein wichtiger Absatzmarkt.
Der Konflikt mit Moskau droht die globale Zusammenarbeit zur Bewältigung internationaler Krisenherde zu blockieren. Der Westen braucht die UN-Vetomacht Russland nicht nur, um im syrischen Bürgerkrieg Einfluss auf Präsident Assad auszuüben. Auch die Verhandlungen mit dem Iran über dessen umstrittenes Atomprogramm könnten im Falle einer neuen Eiszeit zwischen Washington und Moskau ins Stocken geraten.
Die Krim-Krise liegt knapp sechs Jahre nach dem Kaukasuskrieg 2008, der zur Abspaltung Südossetiens und Abchasiens von Georgien führte. Auch in anderen früheren Sowjetrepubliken macht sich die Sorge breit, dass es in Zukunft ebenfalls Probleme mit der russischen Minderheit geben könnte. So dürfte Moldawien mit dem abtrünnigen und von Russland kontrollierten Landesteil Transnistrien ebenso in den Blickpunkt rücken wie das Schicksal der rohstoffreichen zentralasiatischen Republiken.
Deutlich entspannter können die Balten Richtung Moskau blicken. Als Nato-Mitglieder genießen Estland, Lettland und Litauen jenen Schutz, um den die an Europa orientierte neue Führung in Kiew in den vergangenen Tagen vergeblich flehte.
So sehr sich die prowestlichen Kräfte in der Vergangenheit bemühten, die EU fremdelt bis heute mit dem Nachbarn im Osten. Als die Sängerin Ruslana 2004 - im Jahr der Orangenen Revolution - mit ihren „Wild Dances“ beim Eurovision Song Contest siegte, sah sich das Land in Europa angekommen. Doch der Rausch in den blau-gelben Nationalfarben verflog schnell und wich bei vielen einer EU-Ernüchterung. Auch die in der Ukraine ausgetragene Fußball-Europameisterschaft 2012 brachte das Land dem Westen nicht entscheidend näher.
Im Spagat zwischen EU und Russland machte sich die ukrainische Führung wenige Freunde. Der Dauerstreit mit Russland um Gaslieferungen und zeitweilig blockierte Pipelines kostete auch die EU-Länder Nerven. Wer sich im Westen Politikernamen wie „Juschtschenko“, „Janukowitsch“ oder „Jazenjuk“ merken und unfallfrei aussprechen konnte, durfte sich schon als Ukraine-Experte fühlen.
Selbst die Rückkehr der über Jahre inhaftierten Oppositions-Ikone Julia Timoschenko in die Politik wird im Westen nicht nur wohlwollend zur Kenntnis genommen. Manche Diplomaten nehmen der Dame mit dem prägnanten Haarzopf bis heute übel, dass im Streit mit Präsident Juschtschenko das Projekt der Orangenen Revolution scheiterte. Über Jahrzehnte haben Misswirtschaft und Korruption - nicht nur unter dem prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch - die Ukraine an den Rand des Bankrotts gebracht.
Für viele Ukrainer blieb der Westen nicht nur aus finanziellen Gründen bis heute ein Traum. Die EU hielt in den vergangenen Jahren Einreisebeschränkungen aufrecht, während die Ukraine ihrerseits den Visazwang für die EU-Länder abschaffte. Diese Reisefreiheit Richtung Osten führte allerdings nicht zu einem Ansturm neugieriger Westeuropäer. An der Entfernung kann das nicht liegen. Die Ukraine beginnt bereits eine Flugstunde östlich von Berlin.
Während der Westen um eine gemeinsame Strategie im Verhältnis zu Russland ringt, schlägt der Kreml beim Krim-Projekt weitere Pflöcke ein. In Kürze soll der Bau einer Brücke von der russischen Schwarzmeerküste zur Krim begonnen werden. Damit gäbe es über der Meerenge von Kertsch eine erste direkte Verbindung mit Russland. Würde man dann noch den dünn besiedelten Übergang zum ukrainischen Festland abriegeln, wäre die Halbinsel auf dem Landweg künftig nur noch von Russland aus zu erreichen.