Analyse: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“
Berlin (dpa) - Anton W. erlebte nach dem Konkurs seiner Firma einen regelrechten Absturz: Er verdingte sich als Fahrer und bekommt jetzt 975 Euro im Monat. „Das entspricht einem Stundenlohn von rund sechs Euro.
Nach Abzug von Steuern, Sozialversicherungsabgaben, Miete und anderen Fixkosten bleiben mir rund 100 Euro im Monat. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“ Er hätte früher „nicht im Traum daran gedacht, für so einen Hungerlohn arbeiten zu müssen“.
Im „Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz (nak), in der Sozial- und Wohlfahrtsverbände mit Gewerkschaften zusammenarbeiten, wird der 50-jährige Ex-Geschäftsführer als Zeuge für das Versagen der Sozialpolitik mit den Worten zitiert: „Es ist eine frustrierende Erfahrung, dass der Lohn allein nicht zum Leben reicht und ich zusätzlich Arbeitslosengeld beantragen muss - und das bei einer Vollzeitbeschäftigung.“
Wie W. geht es etwa 350 000 anderen Menschen in Deutschland. Als sogenannte Aufstocker sind sie auf Geld vom Staat angewiesen, damit wenigstens ihr Existenzminimum gesichert ist. Sie sind arm trotz Arbeit. Und ihre Chancen sind geringer als früher, der Armutsfalle zu entkommen. „Wer arm ist, bleibt arm“, weiß der Darmstädter Wissenschaftler Walter Hanesch, der die nak mit Daten versorgt. „Heute wird Armut durch den Sozialstaat sehr viel weniger vermieden als noch vor 10 bis 15 Jahren.“
Laut Statistischem Bundesamt sind 12,8 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht. Die Armutsgrenze für Singles in Deutschland liegt derzeit bei 952 Euro netto im Monat. Für die nak-Experten ist klar: Niedriglöhne holen Menschen zwar aus der Arbeitslosigkeit, nicht aber aus der Armut. Es gleicht einem unheilvollen Teufelskreis, der die Betroffenen gefangen hält.
Gleichwohl ist Arbeitslosigkeit - das zeigt die Statistik - nach wie vor das größte Armutsrisiko: So ist die Armutsquote mit 54 Prozent bei Erwerbslosen besonders hoch. Alleinerziehende folgen mit einer Quote von fast 39 Prozent auf Rang zwei, Migranten an dritter Stelle mit 26,2 Prozent.
Wie schwer es Geringverdiener heute haben, erzählt im nak-„Schattenbericht“ die Krankenkschwesternhelferin Sarah H. (40): „Ich muss an allen Ecken und Enden sparen, damit ich genug Geld habe, um zum Beispiel meiner Tochter (...) das tägliche Mittagessen nach der Schule und ein kleines Taschengeld zu finanzieren. Dafür habe ich sogar den Fernseher bei der GEZ abgemeldet.“
Armut ist allerdings relativ: Nach gängiger Definition gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Bei ungleichen Einkommen kann damit Armut nie verschwinden. Ein weiteres Problem der Definition: Unter lauter Millionären wäre auch ein Gutverdiener bloß ein armer Schlucker. Und in einer Gesellschaft, in der alle hungern, gäbe es keine Armen.
Laut Armuts- und Reichtumsbericht vereinen 10 Prozent der Haushalte 53 des gesamten Nettovermögens auf sich. Auf die untere Hälfte der Haushalte entfällt dagegen nur 1 Prozent. Dass die Regierung nach internem Tauziehen in dem noch nicht verabschiedeten Bericht freilich nicht mehr von einer ungerechten Verteilung spricht, ist in den Augen von Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbänden reine Schönfärberei.