Analyse: Zuwanderer stoppen Bevölkerungsschwund
Wiesbaden (dpa) - Deutschland hat - trotz Geburtendefizits - erneut zugelegt: Einige hunderttausend Zuwanderer haben im dritten Jahr hintereinander dafür gesorgt, dass die Einwohnerzahl weiter gestiegen ist.
„Deutschland ist zum Magneten vor allem für gut qualifizierte Zuwanderer geworden“, stellt Migrationsforscherin Christine Langenfeld fest. „Wenn wir keine Wanderung hätten, würde die Bevölkerung jedes Jahr um rund 200 000 Personen schrumpfen“, sagt Arbeits- und Migrationsforscher Herbert Brücker. Bevölkerungswissenschaftlerin Franziska Woellert ergänzt: „Die Zuwanderung nutzt der alternden Gesellschaft stark.“
Die aktuelle Debatte über die angebliche Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien ist nach Ansicht der Fachleute kontraproduktiv. Sie sind überzeugt, dass Deutschland stattdessen mehr für die Integration der meist jungen Menschen aus anderen Ländern tun muss.
Woellert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung verweist auf die demografische Entwicklung: Im Jahr 2050 kämen Hochrechnungen zufolge sechs Rentner auf zehn Menschen im erwerbsfähigen Alter - doppelt so viele wie derzeit. Auch nach Ansicht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) muss die Bundesrepublik für Zuwanderer attraktiver werden. Bis 2020 sinke das Potenzial an Erwerbstätigen um 6,5 Millionen Menschen, hatte BDI-Präsident Ulrich Grillo um den Jahreswechsel gesagt.
Zuwanderung kann nach Einschätzung von Langenfelds, der Vorsitzenden des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), den Fachkräftemangel abfedern, etwa bei Pflegekräften und Ingenieuren. „Um die größer werdenden Lücken im Fachkräfteangebot zu schließen, ist das Ausschöpfen des inländischen Arbeitskräftepotenzial ebenso nötig wie eine am Bedarf des Arbeitsmarktes orientierte Zuwanderung.“
Die meisten Zuwanderer seien jung und bekämen in Deutschland auch Kinder, sagte Bevölkerungswissenschaftlerin Woellert. „Deutschland muss etwas tun, damit sie nicht in großer Zahl zurückgehen.“ Junge Spanier beispielsweise, die begeistert in der Bundesrepublik ihr Glück versuchten, blieben zugleich mit ihrer Heimat - über Reisen und moderne Kommunikationswege - eng verbunden. Sie seien bereit, nach einiger Zeit zurück oder woanders hin zu gehen.
Zur Diskussion über eine angebliche Armutszuwanderung sagt die Wissenschaftlerin: „Die Mehrheit dieser Menschen kommen als Qualifizierte bis Hochqualifizierte zu uns - mit entsprechenden Arbeitsstellen und dem, was sie in unsere Sozialsysteme einbezahlen.“ Woellert ist überzeugt: „Sie fühlen sich mit Sicherheit nicht willkommen, angesichts einer solchen Diskussion.“
„Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit entstehen jetzt vor allen Dingen erstmal neue Beschäftigungsmöglichkeiten“, sagt Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „An dem Zuzug in die Sozialsysteme ändert sich erstmal nichts. Die Anspruchsvoraussetzungen sind die gleichen wie vorher.“ Rumänien und Bulgarien gehören seit 2007 zur EU, die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt für sie aber erst seit Jahresbeginn.
Brücker geht nicht davon aus, dass die Zuwanderung nach Deutschland dauerhaft so stark bleibt. „Das hängt im Wesentlichen davon ab, ob und wie stark die Erholung von der Euro-Krise einsetzt.“ Eine gute wirtschaftliche Entwicklung im Süden Europas und die Erholung in Großbritannien und Irland machten diese Länder für Zuwanderer aus anderen EU-Ländern wieder attraktiver.