Keine Kompromisssignale Asylmachtkampf gipfelt in Nervenprobe für gesamte Union
Berlin/München (dpa) - Horst Seehofer sagt nichts. Keinen Ton. Nicht einmal ein „Grüß Gott“ kommt dem CSU-Chef und Bundesinnenminister über die Lippen, als er am Sonntag um 13.39 Uhr - fast eineinhalb Stunden vor Beginn - zur Sondersitzung des CSU-Vorstands in München kommt.
Das gab es so noch nie. Wortlos geht er mit versteinerter Miene an den unzähligen Kameras und Mikrofonen vorbei, hinein in den Aufzug, fährt nach oben in die Chefetage der Parteizentrale.
Es sind die entscheidenden Stunden im erbitterten Asylstreit von CDU und CSU. Wird es am Ende eine wenigstens gesichtswahrende Lösung für beide Seiten geben? Oder läuft es - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - doch auf den Bruch der seit fast 70 Jahren bestehenden Unions-Fraktionsgemeinschaft und damit der Bundesregierung hinaus?
Schon kurz nach Beginn der CSU-Sitzung wird deutlich: Es gibt keine Zeichen einer Entspannung, keine Kompromisssignale. Im Gegenteil: Seehofer macht unmissverständlich deutlich, was er von Angela Merkels Brüsseler Verhandlungsergebnissen hält: nichts.
In einem etwas mehr als einstündigen Vortrag zerpflückt Seehofer vor den CSU-Vorstandsmitgliedern alle wichtigen Kerninhalte der EU-Einigung, mit denen die Kanzlerin nach eigenen Worten selbst immerhin „einigermaßen“ zufrieden ist. Bei Seehofer ist von Zufriedenheit nichts zu erkennen. Die Gipfelergebnisse seien nicht wirkungsgleich mit Kontrollen und Zurückweisungen an der Grenze, sagt er, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen erfährt. Sein Treffen mit Merkel am Vorabend? Ein „wirkungsloses Gespräch“.
Die europäischen Beschlüsse seien kein „wirkungsgleiches Surrogat“ (kein gleichwertiger Ersatz). Gleiches gelte für den Vorschlag Merkels, Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, in den geplanten Ankerzentren unterzubringen. Deutschland würde damit die Zuständigkeit vom eigentlich zuständigen EU-Land übernehmen. „Es geht hier auch um die Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden“, sagt der CSU-Chef nach Angaben von Teilnehmern - und erntet am Ende viel Applaus.
Auf Seehofer folgt in der Sitzung CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt: „Es geht doch nicht darum, etwas aufs Papier zu schreiben, sondern auch, ob es umsetzbar ist.“ Genau an dieser Stelle könnte bald eine neue, aber nicht zu unterschätzende Detailfrage ins Spiel kommen: Wo genau sollen die Kontrollen der Flüchtlinge erfolgen, die dann gegebenenfalls zurückgewiesen werden sollen? Erst auf deutschem Boden oder schon im Grenzniemandsland davor?
Bevor diese Frage im Praxisalltag der Polizei wichtig wird, braucht es eine Entscheidung des Bundesinnenministers. Will Seehofer nun tatsächlich im Alleingang Zurückweisungen von bereits in der EU registrierten Flüchtlingen an der deutschen Grenze anordnen? Das will der CSU-Vorsitzende erst am Ende der Sitzung bekanntgeben. Klar ist: Dann stünde das Ende der Koalition, der Union, der Regierung im Raum.
Die Kanzlerin müsste entscheiden, ob sie Seehofer entlässt (was eigentlich die logische Schlussfolgerung sein müsste) oder den Alleingang ihres Ministers hinnimmt (worauf in der CSU viele hoffen). Aus der CDU-Spitze heißt es zur CSU-Kritik nur lapidar, jetzt gelte es, Nerven zu bewahren und den eigenen Laden zusammen zu halten. Es gehe um „das Ansehen das Landes, die Handlungsfähigkeit und die Regierungsfähigkeit“, sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Auf dem Spiel stehe sehr viel mehr CDU und CSU.
Die Kanzlerin hatte kurz vor Beginn der CSU-Vorstandssitzung noch alles offen gelassen. Um 14 Uhr ist Merkel beim ZDF-Sommerinterview in „Berlin direkt“. Schon die erste Frage trifft den Kern: Werde Seehofer am Abend noch Innenminister sein, die Union beisammen sein und Deutschland eine Regierung haben? Merkel weicht aus. „Ich werde alles daran setzen, dass wir sowohl bei CDU als auch CSU Ergebnisse haben, bei denen wir dann auch die Verantwortung für unser Land wahrnehmen können.“
„Recht gute Ergebnisse“ habe sie in den vergangenen Tagen schon erzielt, sagt die Kanzlerin, damit habe sie ja selbst kaum gerechnet. Die CSU habe sie „sicherlich auch ein Stück angespornt, jetzt diesen europäischen Gedanken noch mal wirklich nach vorne zu bringen“. Und: „Ja, in der Summe dessen, was wir insgesamt beschlossen haben, ist das wirkungsgleich“, wiederholt sie das Wort, das Seehofer und die CSU Merkel quasi als Messlatte mit auf den Weg gegeben hatten.
In der Sache bleibt die Kanzlerin hart: „Ich möchte gerne, dass CDU und CSU gemeinsam weiterarbeiten. Denn wir sind eine Erfolgsgeschichte für Deutschland“, sagt sie zwar. Dann schiebt sie aber ihr Credo beim Thema Rückweisungen hinterher: nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zu Lasten Dritter. „Die Migrationsfrage kann Europa spalten. (...) Und deshalb ist mir dieser Einsatz auch so wichtig. Und wenn es wichtig ist, muss man auch kämpfen.“
In der CSU-Zentrale haben sie Merkels Sätze genau registriert. Aber auch das: Ein Entgegenkommen kann man aus ihren Antworten nicht heraushören. Vielmehr eine große Portion Entschlossenheit. Der CSU-Vorstand reagiert mit Gegendruck: Es wäre ein enormes Risiko, Horst Seehofer in dieser Frage nicht zum 100 Prozent zu unterstützen, sagte etwa der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber. Auch sonst ist die Zahl der Merkel-Befürworter deutlich in der Minderheit, obwohl der Redebedarf gigantisch scheint. Es gibt rund 50 Wortmeldungen.
Die Frage nach möglichen Konsequenzen, falls der Innenminister im nationalen Alleingang gegen ihren Willen die Grenzen für bestimmte Migranten schließt, lässt Merkel offen - auch, ob sie im Bundestag die Vertrauensfrage stellen würde. Damit spielt Merkel den Ball wieder zurück ins Feld von Seehofer. Er müsse nun entscheiden, heißt es aus der CDU. In der CSU sehen sie das genau anders herum, Merkel müsse entscheiden, wie sie auf die CSU reagiere.
Merkel wirkt gelöst in diesem Interview, sie lacht öfter, gibt sich nicht angespannt, trotz der kritischen Lage: An dem Streit kann ihre vierte Regierung nach nur gut 100 Tagen immer noch platzen. Auf eine entsprechende Frage wird ihr Tonfall ernster: „Ich gehe nicht heiter darüber hinweg. Ich gehe da sehr, sehr ernst in diese Dinge hinein. Aber ich gehe innerlich überzeugt in sie hinein.“
Seit Tagen war der Asylstreit auf seinen Höhepunkt zugesteuert, unmittelbar nach Abschluss des EU-Gipfels. Noch am Freitagabend berichtet Merkel den Koalitionsspitzen von Verhandlungsergebnissen. Am Samstag wird ein achtseitiges Papier publik, das an die Partei- und Fraktionschefs der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD ging, und Seehofer offenkundig zur Weißglut bringt. „Ich habe schräge, schiefe, falsche Informationen jetzt tagelang stehen lassen. Das wird sich ändern, das garantiere ich Euch. Ich lasse keine Lösungen zu, die eine Verschlechterung bedeuten“, schimpft er im Vorstand.
Was Seehofer damit konkret gemeint hat, ist offen. Sicherlich die im Papier erwähnten Staaten wie Ungarn, die sich angeblich bereit erklärt haben, bilaterale Abkommen mit Deutschland zu schließen, und inzwischen wieder das Gegenteil behaupteten. Aber auch die rechtliche Interpretation des Gesamtbeschlusses, die ja laut CSU auch nationale Maßnahmen nicht ausschließt. Darauf weist in München auch Ministerpräsident Markus Söder hin: Die CSU dürfe ihre eigenen Überzeugungen nicht aufgeben: „Nicht wer Recht behält, ist entscheidend, sondern was richtig ist.“
Wie ernst die Lage ist, zeigt sich schon am Samstagabend, als Seehofer entgegen ursprünglicher Ankündigungen doch nach Berlin zu Merkel fährt. Von dem Treffen bleibt ein Bild hängen: Wie Merkel mit einem Weinglas in der Hand einige Meter vor Seehofer über einen Balkon ihrer Regierungszentrale läuft, auch er ein Glas in der Hand. Die Mienen versteinert. Harmonie und Eintracht sehen anders aus.