Belgiens gallisches Dorf Bei den Wallonen: „Sie sehnen sich nach Identität“

Charleroi (dpa) - Die Wallonie, das gallische Dorf: Die 3,6 Millionen französischsprechenden Belgier gelten manchem als ebenso liebenswert aufmüpfig wie einst Asterix und Obelix.

Weil sie bislang das EU-Kanada-Freihandelsabkommen blockieren, sind die Wallonen für Ceta-Gegner die letzten Kämpfer, die noch Widerstand gegen eine Übermacht leisten.

Viele Menschen mögen den Außenseiter, der mit Raffinesse und Chuzpe den Großen zum Stolpern bringt. Das ist nicht nur beim Fußball so. Wer Ceta-Gegner sucht, kann in der größten wallonischen Stadt, in Charleroi, welche finden. Der Ort ist die Heimat des sozialistischen Regierungschefs der Wallonie, Paul Magnette. Der Mann ist auch Bürgermeister der Stadt.

„Es ist das erste Mal, dass ich Magnette zustimme“, sagte eine Frau in einem Café in der Innenstadt. Sie unterstütze ihn eigentlich nicht, aber diesmal eben doch. „Ceta ist schlecht für Belgien“, wiederholt sie immer wieder. Auch ihre Tochter, die in Brüssel Medizin studiert, sehe das so, betont die 48-Jährige.

Sie arbeitet als Labortechnikerin und ist auf einem Bauernhof in der Wallonie aufgewachsen. Die kanadischen Farmer könnten günstiger produzieren und würden die belgische Landwirtschaft zerstören, erklärt die Frau. Und: „Ich will lokale Sachen essen.“ Ähnliches sagen Viele in Charleroi, das rund fünfzig Kilometer südlich von Brüssel liegt. Mitten in der Wallonie.

In Charleroi sagt man: Die Niederländer machen Witze über flämische Belgier, die Flamen machen Witze über die Wallonen, und der Rest der Wallonie macht sich über Charleroi lustig. Leser der niederländischen Zeitung „Volkskrant“ wählten es einmal zu „hässlichsten Stadt der Welt“. Das Selbstwertgefühl einer Stadt könnte gepflegter sein. Symbol der Traurigkeit ist eine seit vielen Jahren nie genutzte U-Bahn-Strecke.

Rund 200 000 Menschen leben in der Industriestadt, die leidet. Fast jeder Vierte hat keinen Job. Und bald schließt ein amerikanischer Baumaschinen-Hersteller ein Werk.

„Paul Magnette ist kein Held. Er macht das, damit ihn die Leute wählen“, sagt Michaël Goffaux. Der 28-Jährige protestiert seit drei Jahren gegen Ceta. Sein Beruf ist, für die Umweltschutzorganisation Greenpeace Geld zu sammeln. Aber in Sachen Ceta spreche er nur für sich, betont er.

Auf dem Rücken seines Handys klebt ein Aufruf, den ebenfalls geplanten Europa-USA-Handelspakt TTIP zu stoppen. Ceta sei ein „trojanisches Pferd“, mit dem auch der USA-Deal eingefädelt werden solle, findet er. Beide Abkommen seien antidemokratisch, gefährdeten Arbeitsplätze und würden europäische Standards aushebeln, argumentiert Goffaux.

Und wie ticken die Menschen in dieser Region? Ex-Fußballstar Marc Wilmots ist von dort. „Wallonen sind locker, immer auf Spaß aus. Wir orientieren uns an der französischen Lebensart“, sagte der ehemalige Nationaltrainer Belgiens mal dem Magazin „11Freunde“. So ähnlich wirbt der Tourismusverband.

Von solchen Beschreibungen hält der Künstler Nicolas Buissart wenig. In Charleroi und der gesamten Wallonie hätten die Leute Angst vor der Globalisierung, sagt er. Sie werde die Menschen ärmer machen, befürchteten sie. Der gebürtige Wallone bietet Touren durch Charleroi an und bewirbt sie mit der Hässlichkeit der Stadt. „City Safari“ nennt er das.

„Wir haben zu viel verloren“, sagt der 36-Jährige. Früher machten Kohleabbau und Stahlindustrie die Gegend um Charleroi reich, doch davon ist seit dem Strukturwandel der 1970er und 1980er Jahre wenig geblieben. Der Norden, Flandern, ist reicher. Magnette berühre mit seinem Kurs viele Wallonen, sagt Buissart. „Viele Leute denken, dass sie einen Anführer gefunden haben. Sie sehnen sich nach Identität.“