Bericht: Zeitreise in die Bonner Republik
Bonn (dpa) - Die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit brachten für einen Tag die Politik zurück nach Bonn. Da kamen zwangsläufig Erinnerungen an die Zeit auf, als die Kulissen der Politik noch nicht Berliner Format hatten, aber dafür große Beständigkeit ausstrahlten.
Dass der Tag der Deutschen Einheit diesmal in Bonn gefeiert wird, findet Elisabeth Sauer „gar nicht so verkehrt“. Nicht „super“ oder „überfällig“, sondern „gar nicht so verkehrt“. Ein „kleines Dankeschön an Bonn“ sei das, sagt die 76-Jährige. „Wir sind Provinzler. Und doch ist hier über 40 Jahre eine ganz gute Politik gemacht worden.“
Damit spricht die Hausfrau, Großmutter und „Ur-Bonnerin“ wohl nicht nur für viele Bewohner ihrer Stadt, sondern auch für eine Reihe von Politikern, die an diesem 3. Oktober in die frühere Bundeshauptstadt zurückgekehrt sind. All die Schauplätze von damals kommen noch einmal ins Bild. Der Tag beginnt um neun Uhr morgens im Rathaus. In den Augen der Bonn-Verächter hatte es immer etwas leicht Liechtensteinhaftes, wenn sich hier die Großen der Welt ins Goldene Buch eintrugen.
Aber beschaulich war es, und ist es jetzt wieder, dem großen Polizeiaufgebot und den beunruhigenden Meldungen über die Festnahme von Islamisten zum Trotz: Jeder, der zu so früher Stunde hergekommen ist, kann darauf zählen, dass ihm Christian Wulff oder Angela Merkel die Hand schütteln. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft plaudert mit Bonner Bürgerinnen über ihr Outfit - Schwarz mit roten Schuhen: „Finden Sie nicht schön? Na ja, Geschmackssache!“
Fast jeder ältere Bonner kann sich an solche Begegnungen erinnern, man lebte schließlich auf engem Raum mit den Politikern zusammen. Elisabeth Sauer saß im Theater nur drei Stühle neben Bundespräsident Richard von Weizsäcker. „Ohne Bodyguard, ganz privat. Das konnte man hier in Bonn wirklich so erleben, so angenehm, wissen Sie. Ja, es war eine schöne, ruhige Zeit.“
Manche Leute empfanden die Ruhe als betäubend, andere wussten die schläfrigen Reize des „Bundesdorfes“ zu schätzen. Die örtlichen Gegebenheiten waren der beste Schutz gegen die frühere Großmannssucht. „Man hatte doch anfangs nur eines im Sinn: Um Gotteswillen nicht mehr das, was wir vorher gehabt haben“, erinnert sich Elisabeth Sauer. „Ich weiß noch, wie ich das erste Mal den Theodor Heuss sah, unseren ersten Bundespräsidenten, das was so ein väterlicher Typ. Ich dachte: Gott sei Dank, jetzt kommen Menschen!“
Später am Vormittag fahren die Gäste aus Berlin über den Rhein zum alten Parlamentsgebäude, das heute zu einem Kongresszentrum gehört. Die Wege sind kurz hier. Die Hauptstadt Bonn war überschaubar, und die bipolare Welt von damals war es auch. Währungskrise? Das war zu Bonner Zeiten ein Wort aus den 20er Jahren.
Bonn hat Glück mit dem Wetter an diesem 3. Oktober. Der Himmel ist hoch und blau, und die Fäden des Altweibersommers durchziehen die Gassen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, und von auswärts sind noch Tausende dazugekommen.
Die Politiker versammeln sich im alten Plenarsaal. In diesem Regierungsviertel ist alles drei Nummern kleiner als in Berlin. Zum Beispiel das Kanzleramt, 1976 in der Ägide Helmut Schmidts fertiggestellt: Das einzige, was den Kanzlertrakt von den Büros der ganz normalen Beamten unterschied, war eine etwas teurere Wandverkleidung. „Hier sind damals zwar die Grundlagen unserer Demokratie geschaffen worden“, sagt Elisabeth Sauer, „aber immer pfleglich und maßhaltend.“
Bonn wirkt in der Tat sehr gepflegt. Vor allem im Vergleich zu Berlin. Es ist eine Stadt der Kieswege, Rosensträucher und akkurat geschnittenen Hecken. Auch die Feiern verlaufen sehr bürgerlich, sehr familienfreundlich. Auf dem Münsterplatz singt ein Jugendchor „Freude, schöner Götterfunken“. Thomas Gottschalk, so heißt es, will später schwarzrotgoldene Gummibärchen verteilen.
In den Reden, die im alten Plenarsaal gehalten werden, geht es nicht nur um die deutsche, sondern auch um die europäische Einigung. Es muss weitergehen, mahnt Kraft, die „Wärme der guten alten Zeit“ sei nur vorgegaukelt. Noch einmal ist das Rund des Saals gefüllt, noch einmal sitzen dort die alten Schlachtrösser der Bonner Republik, Männer wie Hans-Dietrich Genscher (84), Norbert Blüm (76) und Richard von Weizsäcker (91). Es ist jetzt zwölf Jahre her, seit die große Politik wegzog. Bonn blieb „die kleine Hauptstadt für zwischendurch“ (Friedrich Küppersbusch).
„Mir ist es ganz recht, wenn wir heute nur noch Bundesstadt sind“, sagt Elisabeth Sauer. „Wir erleben jetzt eine andere Zeit. Deutschlands Bedeutung ist gewachsen. Aber ich für meinen Teil, ich bin froh, hier geboren zu sein. Und ich möchte auch hier begraben werden.“