Berichte von Chaos und Mord im „befreiten Libyen“
Sallum/Kairo (dpa) - Tausende von Ägyptern sind am Dienstag unter schwierigsten Bedingungen auf dem Landweg von Libyen in ihre Heimat geflohen.
Sie berichteten von Mord, Plünderungen und kompletter Anarchie im östlichen Teil des Landes, in dem die Truppen von Staatschef Muammar al-Gaddafi kaum noch Präsenz zeigen.
Auf libyscher Seite stehen nach Aussage von Augenzeugen schon seit Tagen keine Grenzwächter mehr. Auf der ägyptischen Seite hat die Armee Zelte aufgestellt. „14 Ägypter sind mit Schussverletzungen hier angekommen“, sagte der Direktor des Grenzpostens, Medhat Mussa. Seit Sonntag hätten mehr als 10 000 Menschen die Grenze passiert.
„Im Industriegebiet von Bengasi ist alles gestohlen worden“, sagt der ägyptische Fliesenleger Mohammed al-Fachrani (27). Ahmed Samir aus der Provinz Minia musste mit ansehen, wie libysche Zivilisten mit Feuerwaffen in Bengasi das Gelände der türkischen Firma, für die er arbeitete, stürmten und eine Lagerhalle anzündeten.
An den Verbrechen seien sowohl Afrikaner beteiligt gewesen als auch einheimische Zivilisten aus der Region. Diese hätten aus den Waffendepots der Armee Feuerwaffen erbeutet. Die meisten Ägypter glauben, dass Gaddafis Schergen die Afrikaner, die nach ihren Aussagen Zivilkleidung trugen, bewaffnet haben, um die Bewohner der Gebiete, in denen der Aufstand begann, in Angst und Schrecken zu versetzen. Beweisen können sie dies aber nicht.
Viele der Neuankömmlinge im ägyptischen Grenzort Sallum haben seit vier Tagen kein Brot mehr gegessen. Sie sind müde und ausgelaugt, vom Nervenkrieg der vergangenen Tage. Mit kleinen Reisetaschen kommen sie an. Viele von ihnen haben nicht einmal genügend Geld für die Weiterreise zu ihren Verwandten.
In der Gegenrichtung passiert kaum noch jemand die Grenze. Doch am Dienstag schickten zwei Großfamilien aus der ägyptischen Küstenstadt Marsa Matruh 15 Kleinlaster mit Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern nach Libyen.
Auch drei Libyer aus Bengasi, die am Dienstagabend von Istanbul nach Kairo fliegen wollten, bereiteten sich auf die Reise in die „befreiten Gebiete“ von Libyen vor, wie sie sagen. Sie hatten ursprünglich einen Direktflug in ihre Heimatstadt gebucht. Doch die Landebahn des Flughafens von Bengasi wurde zerstört.
Jetzt wollen sie von Kairo aus auf dem Landweg in die Heimat zurückkehren. Dass sie dort ein „neues Libyen“ erwartet, stimmt sie froh, trotz der Horrormeldungen aus der Heimat, die sie in den vergangenen Tagen von den Verwandten per Telefon und im Fernsehen gehört haben.