Analyse Brexit: Die 100-Milliarden-Euro-Frage

Brüssel (dpa) - Michel Barnier gibt sich stets verbindlich - nicht streitsüchtig, wie er sagt, aber auch nicht naiv. „Ich werde mich auf die Fakten konzentrieren, auf die Zahlen, das Recht und auf Lösungen, und ich werde mich nicht von Gefühlen oder Feindseligkeit leiten lassen.“

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Das sagte der Chefunterhändler der Europäischen Union über seine Marschrichtung für die Gespräche über den EU-Austritt Großbritanniens. Mit dieser Reserviertheit des kühlen Bürokraten steht der 66-jährige Franzose aber inzwischen ziemlich alleine da.

Schon Wochen vor Verhandlungsbeginn kochen auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Emotionen hoch. Man wirft sich gegenseitig Illusionen vor, Naivität, Schönrednerei und Boshaftigkeit. Die britische Premierministerin Theresa May warf EU-Vertretern am Mittwoch sogar vor, sie wollten Einfluss auf die anstehende Parlamentswahl am 8. Juni nehmen. Zudem wollten einige ein Scheitern der Brexit-Verhandlungen.

Auch wenn Barnier als moderate Stimme auftritt - die knallharten Forderungen, die der Unterhändler in 46 Punkten und etlichen Unterpunkten in den Entwurf seines Verhandlungsmandats geschrieben hat, dürften die Stimmung erst mal kaum verbessern. Im Mittelpunkt steht, wie sollte es anders sein, die Frage nach dem lieben Geld.

Genau genommen ist es die Frage nach 100 Milliarden Euro oder mehr, wenn man Berechnungen der „Financial Times“ folgen mag. So viel könnte die EU angeblich beim Brexit von ihrem bisherigen Mitglied Großbritannien fordern. Das wäre noch einmal dramatisch mehr als die bisher kursierende Zahl von 60 Milliarden Euro, und schon die hat die britische Regierung in empörte Wallung versetzt.

Die britische Zeitung hat selbst analysiert, wie sie schreibt, und zwar auf Grundlage von neuen Forderungen aus Deutschland, Polen und Frankreich, die die Summe angeblich in die Höhe treiben. Paris und Warschau hätten darauf gedrungen, teure Agrarhilfen einzubeziehen. Und Berlin wolle nicht, dass das EU-Vermögen - so etwa riesige Immobilien in bester Lage in Brüssel, Straßburg und Luxemburg - mit der britischen Bringschuld verrechnet wird.

Eine offizielle Bestätigung von Barnier gibt es für die Riesenzahl nicht. Er kenne auch keine definitive Summe, behauptet er treulich. Großbritannien sei ja noch bis März 2019 EU-Mitglied, und bis dahin würden weitere finanzielle Entscheidungen getroffen. Auch zu Beginn der Verhandlungen will die EU-Seite den Briten keine Zahl nennen - was ja immerhin Spielraum für Kompromisse lässt.

Dass allerdings intern Berechnungen über eine mögliche Gesamtsumme für Haushaltsverpflichtungen, britische Pensionslasten und Beteiligungen angestellt werden, bestätigen Barniers Leute schon. Ebenso wie die Information der „FT“, dass Großbritannien keine Ansprüche auf EU-Vermögenswerte haben soll: „Das EU-Vermögen gehört der EU“, sagten EU-Beamte am Mittwoch. Das hörte sich vor wenigen Wochen noch anders an.

Die britische Regierung reagiert dementsprechend gereizt. Brexit-Minister David Davis polterte im Sender ITV, sein Land bezahle nur das, wozu es gesetzlich verpflichtet sei und nicht das, was die EU fordere. „Wir sind keine Bittsteller“, betonte Davis. Barnier konterte kühl. „Es handelt sich weder um eine Bestrafung noch um eine Austrittssteuer“, sagte er. „Wir müssen die Rechnungen begleichen, nicht mehr und nicht weniger.“

Was das bedeutet, steht klipp und klar in seinem Mandatsentwurf. Am Ende soll eine Summe aller Verpflichtungen Großbritanniens aus seiner EU-Mitgliedschaft festgeschrieben werden. Die Summe soll nachträglich angepasst werden können. Die Briten sollen sich auf eine Art Ratenplan mit jährlichen Zahlungen einlassen - und zwar zu Bedingungen, die möglichst günstig für den EU-Haushalt sind. Die Kosten des Austritts soll London ebenfalls übernehmen, darunter Hunderte Millionen Euro für den Umzug der EU-Agenturen für Arzneimittel und Bankenaufsicht, die derzeit in London sitzen.

Diese Finanzforderungen werden sicher die härteste Nuss in den Verhandlungen, denn die Brexit-Befürworter wollen eigentlich gar nicht mehr an die EU zahlen und sich keinesfalls aus Brüssel irgendwelche Bedingungen diktieren lassen. Die übrigen Punkte, die die EU zur Priorität für die erste Verhandlungsphase erklärt, sind nicht weniger kompliziert, liegen aber zumindest in beidseitigem Interesse.

So wollen erklärtermaßen beide Seiten rasch Rechtssicherheit für EU-Bürger in Großbritannien und für Briten auf dem Festland. Und auch eine harte Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland wollen wohl beide Seiten vermeiden. Allerdings dürfte es im Kleingedruckten noch äußerst knifflig werden.

Barnier, nur scheinbar der ewig gefasste Technokrat, ist deshalb hörbar ungeduldig. Zehn Monate der Unsicherheit seien seit der Entscheidung der Briten für den EU-Austritt verstrichen. Nun sei es höchste Zeit, zur Sache zu kommen, sagt der Franzose: „Die Uhr tickt.“