Brexit erschüttert Brüssel - wird Juncker zum Sündenbock?

Brüssel (dpa) - Ungarns Viktor Orban nennt ihn „Grand-Duc“ (Großherzog), andere sprechen nur von „Jean-Claude“: EU-Kommissionschef Juncker ist seit Jahrzehnten Freund, Ratgeber und Gesprächspartner der Großen dieser Welt.

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Seit 2014 ist der Luxemburger Chef der mächtigen EU-Kommission. In Europa herrscht Dauerkrise. Griechenland, Ukraine, die Flüchtlinge und nun der Briten-Austritt - das hat sichtbare Spuren auf Junckers gefurchtem Gesicht hinterlassen.

Spätestens seit dem Brexit-Referendum sind die Behörde und ihr 61 Jahre alter Chef in schweres politisches Fahrwasser geraten - es gibt Kritik, bis hin zu Rücktrittsforderungen.

EU-Ratschef Donald Tusk sah sich beim Gipfel Mitte der Woche genötigt, den früheren Euroretter öffentlich zu verteidigen. „Jean-Claude Juncker ist die letzte Person, die für den negativen Ausgang des Referendums im Vereinigten Königreich verantwortlich gemacht werden kann.“

Das war richtig ungewöhnlich, Ehrenerklärungen dieser Art sind beim Brüsseler Spitzenpersonal äußerst rar. Juncker war vorgeworfen worden, nicht in Großbritannien für das Vertrauen der Wähler geworben zu haben. „In diesem Moment ist der Kommissionspräsident nicht der richtige Mann an dieser Stelle“, lautet das Verdikt des tschechischen Außenministers Lubomir Zaoralek.

Juncker selbst geht in die Offensive, spricht Gerüchte und Rücktrittspekulationen an. „Ich wurde von vielen Kollegen ermutigt(....), mich nicht entmutigen zu lassen“, berichtete er am Rande des Gipfels.

Spekulationen über seine angeblich angeschlagene Gesundheit wischt der Europa-Veteran beiseite: „Ich bin weder müde noch krank.“ Er werde bis zum letzten Atemzug für ein vereintes Europa kämpfen, kündigte er vor Europaparlamentariern an.

Wenn Kameras und Mikrofone ausgeschaltet sind, ist von EU-Verantwortlichen zu hören, Juncker sei nervöser als üblich. Es ist die Rede von seltsamen Gerüchten, es fällt auch das Wort „Intrige“.

Wer steuert das? Darauf fehlen klare Antworten. Beim Gipfel wurde deutlich, dass die Hauptstädte trotz Kritik an Juncker festhalten und kein Interesse haben, der schweren Briten-Krise mit unabsehbaren Folgen noch ein Erdbeben bei den Brüsseler EU-Institutionen hinzuzufügen. Juncker ist Teil eines fein austarierten europäischen Machtgefüges, bei dem politische Parteien, die Größe von Mitgliedstaaten oder geografische Herkunft eine wichtige Rolle spielen.

Der Wirbel um das Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) mache alles nicht einfacher, berichtet ein Diplomat. Juncker erzählte den EU-Chefs beim Gipfel, seine Behörde wolle den Handelspakt aufgrund rechtlicher Erwägungen als reines EU-Abkommen einstufen. Damit sorgte er besonders in Deutschland und Österreich für scharfe Kritik - denn dies würde die nationalen Parlamente in den EU-Staaten ausschließen.

Juncker, seit über 30 Jahren im EU-Geschäft, versuchte die Kritik mit einem launigen Spruch zu entschärfen: „Mir ist das persönlich (...) relativ schnurzegal“, sagte er. „Ich werde nicht auf dem Altar juristischer Fragen sterben.“

Es gibt sehr deutliche Signale aus den Mitgliedstaaten, dass sich auch die Kommission in der existenziellen EU-Krise verändern muss. Die Behörde müsse wieder mit der Realität in Berührung kommen, meint ein Kritiker aus einer Hauptstadt. Eine Hürde ist schon bald zu überwinden: Die Kommission muss sich deutlicher als bisher festlegen, ob sie die langjährigen Defizitsünder Spanien und Portugal bestrafen will oder nicht. Bisher hatten Juncker und sein Spitzengremium aus politischen Gründen davon abgesehen, dazu gehörten die Wahlen in Spanien. Brüssel hatte sich damit den Vorwurf eingehandelt, es mit dem Euro-Stabilitätspakt nicht so ganz genau zu nehmen.