Chronologie der Atom-Kehrtwende
Berlin (dpa) - Anfang Juni will die Bundesregierung die Zukunft der deutschen Atomkraftwerke klären und Eckpunkte für einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien festlegen.
Nach Erdbeben und Tsunami am 11. März und der Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima sah sich die schwarz-gelbe Regierung zu einer Kehrtwende in ihrer Atompolitik gezwungen.
WAS BISHER GESCHAH:
12. März: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigt Sicherheitschecks für die 17 deutschen AKW an. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) räumt ein, dass sich auch für Deutschland die Frage nach der Beherrschbarkeit der Atomrisiken stelle. In Baden-Württemberg demonstrieren 60 000 Menschen gegen Atomkraftwerke.
14. März: Merkel will die längeren Laufzeiten für die deutschen AKW für drei Monate aussetzen. Sie kündigt die Abschaltung alter Meiler an, die nur wegen der Laufzeitverlängerung noch in Betrieb sind - das würde erstmal nur Neckarwestheim I betreffen. Bei einer Industrie-Sitzung sagt der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) angeblich, die Reaktion der Regierung sei auch den anstehenden Landtagswahlen geschuldet.
15. März: Nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder mit Atomstandorten kündigt Merkel plötzlich an, dass die sieben vor 1980 gebauten Atomkraftwerke vorübergehend abgeschaltet werden. Auch der nach Pannen stillstehende Meiler in Krümmel bleibt abgeschaltet. Zunächst war nur die Abschaltung von drei bis vier Meilern erwogen worden, doch dem Vernehmen nach entwickelte sich bei dem Treffen unter dem Eindruck der Bilder aus Fukushima eine Eigendynamik. Die Abschaltung wird mit Paragraf 19, Absatz 3 des Atomgesetzes begründet, einer Art Gefahrenabwehr-Paragraf.
22. März: Die Regierung beauftragt zwei Kommissionen mit der Klärung von technischen und ethischen Fragen. Eines der Gremien, die dem Umweltministerium zugeordnete Reaktorsicherheitskommission (RSK), soll die technischen Fragen einer Prüfung der 17 deutschen Kernkraftwerke klären. Die zweite, neu zu bildende Ethikkommission soll klären, welches Atomrisiko für die Gesellschaft vertretbar ist.
27. März: Grün-Rot erreicht in Baden-Württemberg eine Mehrheit, nach fast 60 Jahren an der Macht muss die CDU eine bittere Niederlage hinnehmen. Auch in Rheinland-Pfalz legen die Grünen wegen der Atom-Debatte deutlich zu.
31. März: Die 16-köpfige Reaktorsicherheitskommission (RSK) stellt ein umfangreiches Prüfprogramm für die Atommeiler vor. 80 bis 100 Fachleute sollen unter Federführung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit bis Mitte Mai diverse Ereignisse durchspielen: Was etwa passiert bei Erdbeben, verbunden mit Staudammbrüchen oder Sturmfluten? Zudem sollen Absturzszenarien durchgerechnet werden, je nach Flugzeug, Geschwindigkeit, Kerosinmenge und Aufprallwinkel auf das AKW. Auch Kühl- und Notstromsysteme kommen auf den Prüfstand.
1. April: Der Konzern RWE reicht beim Verwaltungsgerichtshof Kassel Klage gegen die vorübergehende Abschaltung des Atomkraftwerks Biblis A in Hessen ein. Der Strom aus Biblis war im Vorfeld verkauft worden und muss nun teuer zurückgekauft werden, um Lieferverträge zu erfüllen. RWE-Chef Jürgen Großmann geht von einem Schaden im dreistelligen Millionenbereich aus und sieht sich aus aktienrechtlichen Gründen zur Klage gezwungen, zumal Juristen die rechtliche Grundlage der Abschaltung für mehr als fragwürdig halten.
4. April: Erstes Treffen der Ethikkommission unter Führung des früheren Umweltministers Klaus Töpfer und des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Matthias Kleiner.
6. April: Der Entwurf eines Sechs-Punkte-Papiers von Umwelt- und Wirtschaftsministerium für die Energiewende steht. Mit mehr Energie-Effizienz und stärkeren Investitionen ins Stromnetz soll der Atomausstieg beschleunigt werden. Ein seit 2010 angekündigtes Fünf-Milliarden-Programm für die Windkraft auf See soll umgesetzt werden.
8. April: RWE, Eon, Vattenfall und EnBW kündigen an, dass sie die Zahlungen in den Fonds zum Ausbau der erneuerbaren Energien einstellen, da diese an die Laufzeitverlängerung gekoppelt seien. Die Unternehmen sollten 2011 und 2012 je 300 Millionen und in den vier Folgejahren 200 Millionen Euro zahlen. Danach sollten die Zahlungen mit dem Auslaufen der Atomsteuer massiv steigen. Insgesamt wurde für den Fonds mit Einnahmen von 16,9 Milliarden Euro gerechnet.
15. April: Gespräch von Bundeskanzlerin Merkel mit allen Ministerpräsidenten zur Energiewende. Unklar ist, wie die Milliardenkosten gestemmt werden sollen. Die Länder wehren sich teilweisen dagegen, Befugnisse beim Netzausbau anzutreten.
28. April: Die Ethikkommission tagt öffentlich. Die Sitzung des „Rats der Weisen“ wird im Fernsehen übertragen, Experten aus Energiewirtschaft und Wissenschaft legen Pro- und Kontra-Argumente zum Atomausstieg dar.
9. Mai: Merkel einigt sich mit der Opposition auf einen Fahrplan, das Parlament bekommt mehr Zeit für die Beratungen, der Bundesrat soll erst im Juli entscheiden. Gibt es einen zeitnahen, unumkehrbaren Ausstieg wollen SPD und Grüne einen Konsens ermöglichen.
10. Mai: Aus der Ethikkommission sickert ein Entwurf für den Abschlussbericht durch: Demnach ist bis spätestens 2021 ein kompletter Atomausstieg möglich. In der schwarz-gelben Koalition entbrennt eine Diskussion, ob man beim Atomausstieg eine Revisionsklausel verankern soll - falls es Probleme bei der Energiewende gibt, etwa explodierende Strompreise oder Netzprobleme, soll so ein Überdenken des Ausstiegs möglich bleiben.
15. Mai: Nach der CDU legt auch die FDP ein Energiekonzept vor, beide Parteien lassen das Ausstiegsdatum offen und wollen es abhängig machen von der Entwicklung bei den Öko-Energien. Die CSU strebt einen Ausstieg bis 2020 an. Die Regierung will mindestens sechs Gesetze zur Energiewende Anfang Juni beschließen.
17. Mai: Die Reaktorsicherheitskommission legt ihren Bericht zur Überprüfung der 17 deutschen Atomkraftwerke vor. Ein klares Urteil lässt sich daraus nicht ableiten.
WAS JETZT GEPLANT IST:
28. Mai: Abschlussbericht der Ethikkommission.
30. Mai: Übergabe des Berichts der Ethikkommission, danach Fraktionssitzungen der Koalitionsfraktionen.
3. Juni: Kanzlerin Merkel trifft sich mit den Ministerpräsidenten; Fraktionssitzungen der Koalitionsfraktionen oder Sitzungen der Fachleute der Koalition mit Beratung über den Atomausstieg.
6. Juni: Vormittags Kabinettsentscheidung zum neuen Atomgesetz, die Regierung will neben dem Atomgesetz ein halbes Dutzend weitere Gesetze verabschieden, etwa um den Bau von Windrädern zu erleichtern. Abhängig von möglichen AKW-Stilllegungen soll es eine Anpassung des Atomvertrags mit den Energieunternehmen geben, der unter anderem die Höhe der Atomsteuer und der Zahlungen in den Ökoenergiefonds regelt.
9. Juni: Erste Lesung des Pakets zum Atomausstieg und für eine beschleunigte Energiewende im Bundestag.
15. Juni: Ende des dreimonatigen Atommoratoriums. Auch wenn der Atomausstieg bis dahin nicht von Bundestag und Bundesrat beschlossen sein wird, wollen die AKW-Betreiber die acht vorübergehend stillgelegten Meiler nicht wieder hochfahren.
30. Juni: Zweite und dritte Lesung des Pakets.
8. Juli: Der Bundesrat entscheidet über das Gesetzespaket (Atomausstieg, Netzausbau, Erneuerbare Energien).