Analyse Der andere Kretschmann: „Macht Euren Wahlkampf selber“
Stuttgart (dpa) - Eher ruhig, besonnen und auch weise: Dieses Bild haben viele Bürger von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Kopf. Dass sich der 69-Jährige aber auch heftig in Rage reden kann, wissen seine Mitarbeiter und manche Journalisten aus eigener Erfahrung.
Selten wird der Regierungschef dabei gefilmt. Eine Aufzeichnung beim Bundesparteitag der Grünen vor rund einer Woche in Berlin, die im Internet kursiert, dokumentiert einen Wutausbruch bei einem Gespräch mit dem Verkehrsexperten der Grünen-Bundestagsfraktion, Matthias Gastel. Dabei lässt Kretschmann seinem Frust über die Grünen im Bund freien Lauf.
Es geht um das im Grünen-Programm zur Bundestagswahl verankerte Ziel, ab 2030 nur noch abgasfreie Autos in Deutschland neu zuzulassen. Kretschmann ist gegen die Nennung einer konkreten Jahreszahl, weil seiner Ansicht nach viele Voraussetzungen zur Verwirklichung dieses Ziels noch fehlen.
Mit öffentlicher Kritik hat er sich beim Parteitag zurückgehalten, um das Bild der grünen Geschlossenheit nicht zu zerschießen. Gegenüber Gastel wettert er aber: „Das sind doch Schwachsinnstermine.“ Er könne, wenn er dazu gefragt werde, nicht ansatzweise erklären, wie das funktionieren solle. „Wie kann man denn so ein Zeug verzapfen“, erbost sich der Regierungschef.
Im Grünen-Bundestagswahlkampf soll Kretschmann, der zu den beliebtesten Politikern in Deutschland zählt, eigentlich eine prominente Rolle spielen. Im März 2016 hatte er seine Grünen in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl zur stärksten Kraft gemacht.
Doch im Video zeigt er wenig Lust auf den Bundestagswahlkampf. „Ihr könnt das machen“, meint er zur strittigen Jahreszahl 2030. „Es ist mir egal. Dann seid aber mit sechs Prozent oder acht einfach zufrieden. Dann jammert nicht rum und lasst mich in Ruhe und macht euren Wahlkampf selbst.“
Gastel versucht zaghaft, dagegenzuhalten. Er spricht von unterschiedlichen Rollen, die die Grünen im Bund und der Regierungschef im Südwesten hätten. „Wir als Fraktion im Bundestag bedienen unsere eigene Klientel und versuchen, sie zu vergrößern.“
Die Aufnahme zeigt auch, wie fragil die öffentlich zur Schau gestellte Geschlossenheit bei den Grünen wirklich ist. Wochenlang bemühte sich die Parteiführung, die notorischen Unruhestifter des linken Flügels rund um Jürgen Trittin wie auch des Realo-Flügels um Kretschmann im Zaum zu halten. Alle wichtigen und prominenten Grünen setzten ihre Unterschrift unter einen Zehn-Punkte-Plan, der Bedingungen für eine grüne Regierungsbeteiligung im Bund formuliert. Das feierten die Grünen, die sich ansonsten gern in internen Streitereien verlieren, als großen Erfolg. Alles umsonst? Nun bleibt jedenfalls der Eindruck hängen, dass dies alles eine Farce ist.
Kretschmanns Regierungssprecher Rudi Hoogvliet kritisiert die Aufnahmen als „Lauschangriff“. Es habe sich um ein privates Gespräch zwischen Kretschmann und Gastel gehandelt. „Es wurde weder gefragt, ob aufgezeichnet werden kann, noch war es für die Beteiligten ersichtlich, dass Bild- und Tonaufnahmen gemacht werden.“
Dem widerspricht Christian Jung, der in dem Video als Urheber des Beitrags genannt wird. „Ich stand mit meiner Kamera auf Stativ keine zwei Meter von Herrn Kretschmann und Herrn Gastel entfernt. Die Aufnahmesituation war eindeutig und klar erkennbar“, wird Jung in der rechtskonservativen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ zitiert.
Ein Sprecher der Landes-Grünen bekräftigt am Freitag, die Grünen gingen geschlossen in den Wahlkampf. „Alle stehen hinter dem Ziel, Mobilität emissionsfrei zu machen.“ Kretschmann werde sich „kraftvoll“ in den Bundestagswahlkampf einbringen. Die grüne Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, schreibt auf Twitter: „Wir alle sollten das nicht so aufblasen. Wir kennen ihn (Kretschmann) und seinen Starrsinn.“ Der baden-württembergische Vize-Regierungschef Thomas Strobl (CDU) stellt sich hinter Kretschmann. Sein Sprecher kritisierte, es gehe gar nicht, dass man offensichtlich private Gespräche auf einem Parteitag heimlich filme und die Aufnahmen dann veröffentliche.
Aber auch CDU-Mitglieder teilen das Video in den sozialen Netzwerken. Dabei könnten die Aufnahmen den baden-württembergischen Grünen sogar nutzen: Sie dokumentieren, dass Kretschmann bei dem für Baden-Württemberg elementar wichtigen Automobilthema gegen die grüne Parteilinie ist. In der Vergangenheit hat dem Ministerpräsidenten das im eigenen Land mehr genutzt als geschadet.