Deutscher Schulverwalter: „Nicht gut, wenn alle gehen“
Yokohama/Berlin (dpa) - Der Mittelpunkt seines Berufslebens hat gerade geschlossen: Gerald Sonntag hat viele Jahre lang die Verwaltung der Deutschen Schule Tokio Yokohama geleitet. Seit dem Erdbeben ist die Schule verwaist.
Viele Familien sind vor der Atomkrise in die deutsche Heimat geflüchtet. Nicht so Herr Sonntag. Wenn die blöden Nachbeben nicht wären, könnte Gerald Sonntag eigentlich ruhig schlafen. Er wäre auch vergangene Woche nicht nach Südjapan geflüchtet. „Doch meine Familie hat mich unter Druck gesetzt“, sagt der 60-Jährige.
Also war er ein paar Tage auf der Insel Kyushu. Inzwischen ist er wieder zurück in Yokohama, ganz nah an der Deutschen Schule. Dort hat er in den vergangenen 24 Jahren die Verwaltung geleitet. Dann kam das Erdbeben und in Fukushima explodierte ein Reaktorgebäude nach dem anderen. Aber Herr Sonntag will trotzdem bleiben.
Hat der große Mann mit den Lachfalten um die Augen keine Angst? „Japan ist mein Zuhause und das meiner Frau und meiner Töchter“, sagt er und es klingt sehr nüchtern. „Wenn alle weggehen, ist das auch nicht gut.“ Ehefrau Rieko ist Japanerin und unterrichtet an der Deutschen Schule die Sprache und Kultur des Landes. Die Schule ist der Lebensmittelpunkt der beiden. Bis zu seinem 60. Geburtstag war Herr Sonntag Verwaltungschef. Seither hat er die Arbeit etwas heruntergefahren, ist aber immer noch jeden Tag in der Schule unterwegs. Nun ist sie seit zwei Wochen geschlossen.
Wann sie wieder öffnet, ist nicht sicher. Bestenfalls am 4. April. Bis dahin sind die Aula, das Schwimmbad, der Sportplatz und die Mensa in dem weitläufigen, rotbraunen Gebäude verwaist. Nur Gerald Sonntag und der Hausmeister schauen jeden Tag vorbei. Sie überprüfen vorsichtshalber, ob Fenster, Wasserhähne, Gasleitungen und Chemikalienschränke zu sind, und ob alle elektronischen Geräte ausgeschaltet sind.
Nicht dass eines der vielen Nachbeben dem modernen Gebäude etwas anhaben konnte. Auch das große Beben am 11. März hat die Schule unbeschadet überstanden. „Es fing wie die meisten Beben ganz leicht an“, erzählt Sonntag. Als seine Kollegin unter den nächsten Tisch tauchte, wollte er noch nicht so recht dran glauben, dass die Sache ernst sein könnte. Aber dann ging er doch in die Knie, weil er sich bei dem Geschaukel kaum noch auf den Füßen halten konnte.
Die folgenden Stunden waren auch für den unaufgeregten ehemaligen Verwaltungsleiter nicht einfach. Der Strom fiel aus, das Handynetz brach sofort zusammen, auf den Straßen herrschte Chaos. „Es war für mich persönlich schwierig, dass ich meine Frau und meine Tochter in Tokio erst nach ein paar Stunden erreichen konnte“, sagt er.
Die Schüler mussten sich auf dem Sportplatz versammeln, wurden durchgezählt und mit Decken, Wasser und Essen aus den Erdbebenvorräten der Schule versorgt. „Dabei gingen mir vor allem professionelle Dinge durch den Kopf, weil ich die Erdbebenvorräte ja immer mit bestellt und inventarisiert hatte“, berichtet Sonntag. Als alle Schüler abgeholt oder mit Schulbussen nach Hause geschickt worden waren, radelte er gegen Mitternacht schließlich heim.
Erst in den Tagen danach wurde ihm die ganze Tragweite des Bebens bewusst. Durcheinandergewirbelte Schiffe und Autos, ins Land geschwemmte brennende Häuser, ein altes Ehepaar, das zu langsam für den Tsunami war. „Das menschliche Elend war unglaublich und sehr erschütternd.“
Die atomare Bedrohung bringt den gelernten Lehrer nicht annähernd so aus der Fassung. Er habe mit mehreren Physikern gesprochen und die sagten einstimmig, dass das mit Tschernobyl nicht zu vergleichen sei. Was im Großraum Tokio an radioaktiven Substanzen ankomme, sei sehr verdünnt. „Das ist wie mit einem Schuss Whisky in einem Wasserglas. Es kommt auf die Menge an, wie es schmeckt.“
Super-GAU und Strahlentod - die deutsche Berichterstattung sei teilweise völlig übertrieben gewesen. Inzwischen gebe es auch wieder mehr Brot und Reis in den Supermärkten und Benzin an den Tankstellen in der Umgebung. „Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die darf man nicht so einfach abschreiben.“
Zu so viel Gelassenheit verhilft Herrn Sonntag auch der Zen-Buddhismus. Um den zu üben, ist er vor mehr als 30 Jahren nach Japan gekommen. Und so klingen seine letzten Worte am Telefon auch sehr meditativ: „Draußen scheint die Sonne, die ersten Knospen an den Kirschbäumen kommen zum Vorschein. Die Natur entfaltet sich weiter, trotz der Sorgen, die manch einer mit sich trägt.“