Ökopartei positioniert sich Die Grünen vor der Bundestagswahl: Der Balanceakt

Berlin (dpa) - Wenn es eng wird, geht Cem Özdemir selbst ans Mikrofon. Die Delegierten sollen ihm doch bitte zustimmen, dem Kohleausstieg bis 2030, denn der Kompromiss sei „radikal, realistisch und verantwortungsbewusst“.

Foto: dpa

Wenn es um den Abschied von der Kohle geht, dann schlagen grüne Herzen höher. Kohleausstieg ist für die Grünen der neue Atomausstieg, ein Großprojekt, mit dem sie sich identifizieren.

Viele wollen schon 2025 raus. Die Fachleute dagegen sagen, wann das allerletzte Kraftwerk vom Netz gehe, sei fürs Klima doch gar nicht entscheidend. Prinzip gegen Pragmatismus. Und was rauskommt, falls man nach der Bundestagswahl mit CDU, SPD oder FDP am Verhandlungstisch sitzt, das ist noch eine ganz andere Frage.

Der Streit um die Kohle, der in der Ökopartei seit Monaten köchelt und am Samstag in einen Kompromiss mündet, steht beispielhaft für das Ringen der Grünen um ihr Wahlprogramm. Wie weit kann man gehen, ohne den Bürgern und möglichen Koalitionspartnern allzu viel zuzumuten? Wie weit muss man gehen, um die Partelinken an Bord zu halten und den Aktivisten nicht die Motivation für den Wahlkampf zu nehmen?

Die drei Tage im Berliner Velodrom sollen den Negativtrend drehen, der die Grünen von etwa 13 Prozent in Umfragen auf 7 bis 8 abrutschen ließ. Am 24. September mehr als 10 Prozent zu holen, drittstärkste Kraft zu werden und in die Regierung zu gehen. Wie das gehen soll? Mit klaren Aussagen und geeintem Auftreten, so ist der Plan.

Aber das ist schwierig. Die beiden Spitzenkadidaten Özdemir und Katrin Göring-Eckardt wollen ein pragmatisches Realo-Programm, Teile der Basis murren. Gleich zum Start am Freitagabend grätscht ihnen jemand dazwischen. Canan Bayram, Nachfolgerin des linksgrünen Promis Hans-Christian Ströbele als Kandidatin in Berlin-Kreuzberg, erzählt eine Anekdote: Eine Rentnerin habe ihr gesagt, die beiden Spitzenkandidaten erinnerten „weniger an Grüne als an Ortsverein-Vorsitzende der CDU.“ Applaus im Saal.

Das sitzt, noch bevor die beiden Spitzenkandidaten überhaupt auf die Bühne gekommen sind. Es folgt ein Gewitter von Parteimanager Michael Kellner: „Unsere Basis hat demokratisch entschieden, und was dann entschieden wird, das gilt auch, und dann versammeln wir uns hinter unseren Spitzenkandidaten.“ Er brüllt fast. Dann: Bühne frei für Özdemir und Göring-Eckardt.

Die beiden kommen mit einem neuen Öko-Posterboy auf die Bühne, dem niederländischen Groenlinks-Chef Jesse Klaver. Der 31-Jährige hat in den Niederlanden 9,1 Prozent geholt, dort ein gewaltiger Erfolg. „I Gotta Feeling“ von den Black Eyed Peas dröhnt aus den Lautsprechern, der Saal klatscht im Takt und jubelt. Nach Klaver spricht Özdemir. Er spricht emotional und über eine Stunde lang. Danach langer Applaus, Özdemir sieht erleichtert aus. Der Parteitag hat erst mal die Kurve gekriegt.

Bis zum Samstagnachmittag sind aus Sicht des Spitzenduos die meisten Abstimmungen gut gegangen auf dem Programmparteitag in Berlin. Aber einige schwierige Themen, Videoüberwachung zum Beispiel oder ein umstrittener Satz zur Migration - „Nicht jeder kann bleiben“ - sind noch nicht behandelt.

Immerhin: Tierprodukte per Umlage teurer zu machen, um die sogenannte Agrarwende zu finanzieren, lehnen die Delegierten ab. Eine Niederlage für Göring-Eckardt, die den Satz „Für andere Ziele gibt es andere Parteien“ vergeblich verteidigt, bleibt eine Randnotiz. Am Samstag wird sie euphorisch gefeiert, als sie mit einer Gruppe neuer Parteimitglieder wie im Triumphzug in die Halle einzieht.

Die Nagelprobe steht am Sonntag an, wenn über einen „Zehn-Punkte-Plan für grünes Regieren“ abgestimmt wird, den Göring-Eckardt und Özdemir vorgestellt haben. 27 Änderungsanträge gibt es dazu - für Grünen-Verhältnisse gar nicht so viel.