Porträt Helmut Kohl - Ein Leben für Deutschland
Berlin (dpa) - Es ist so ein Bild, das sich einprägt. Deutschland feiert die Wiedervereinigung, Helmut Kohl steht zwischen seiner Frau Hannelore und dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Es ist der 3. Oktober 1990. Kohl streckt den Kopf zum Himmel, die Augen geschlossen, ein Lächeln auf den Lippen. Er wirkt selig.
Es gibt viele Stationen in seinem Leben, die herausragen, die einzigartig sind, in denen er Geschichte schrieb. Große Momente waren etwa auch das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und sein Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Verdun Hand in Hand mit Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand. Aber sein größter Erfolg war die Deutsche Einheit.
Helmut Kohl, der Rekord-Kanzler, der Rekord-CDU-Chef - er war ein Mann, den die Menschen bejubelten oder beschimpften. Er starb am Freitag im Alter von 87 Jahren.
Kohl hatte viele Titel. Einige waren spöttisch. Die „Walz aus der Pfalz“ oder „Birne“, was auf seine Körperform und -fülle anspielte. Oder „Bimbes-Kanzler“ und „Herrscher über schwarze Kassen“ wegen der CDU-Spendenaffäre, die die Partei und Republik erschütterte und Kohl vom Thron stürzte. Der Übervater der Partei, der sein Ehrenwort über das Recht stellte, gab in der Folge den Ehrenvorsitz seiner CDU ab. Die Namen jener Spender, von denen er Geld am Gesetz vorbei für die Partei angenommen hatte, nimmt er mit ins Grab.
In einem Interview zu seinem 80. Geburtstag 2010 ließ Kohl erkennen, wie bitter es für ihn war, dass in der Spendenaffäre CDU-Politiker zu ihm auf Distanz gingen. „Wenn Sie ihr Leben lang für eine Partei und ein Land gelaufen sind, und dann feststellen, dass auch Menschen, die zuvor nicht nahe genug heranrücken konnten, sich plötzlich abwenden, ja, sich sogar gegen Sie stellen, weil Sie einen Fehler gemacht haben, da muss ich sagen, da habe ich manches Mal gehadert, allerdings weniger mit dem Schicksal - das ist auch wahr - als vielmehr mit den Menschen“, sagte er damals der „Bild“-Zeitung.
Zu diesen Menschen gehörte für ihn sicher auch Angela Merkel. Sie war es, die als CDU-Generalsekretärin Kohl 1999 wegen der Spendenaffäre den Rückzug nahelegte und später sein Erbe als CDU-Chefin und Kanzlerin antrat. Versöhnung zwischen der Frau aus dem Osten und dem Mann aus dem Westen gab es nicht mehr. Auf die Frage, ob die CDU Kohl den Ehrenvorsitz wieder antragen könnte, sagte Merkel 2010: „Diese Frage stellt sich nicht mehr.“ Aber Merkel machte ihm ein anderes Geschenk: Mit Blick auf die Wiedervereinigung erklärte sie: „Dieser Kanzler des Vertrauens war für uns Deutsche ein Segen.“
Die Spendenaffäre nimmt Kohl nicht seinen Platz in der Geschichte. Niemand war bisher so lange wie er Bundeskanzler (1982 bis 1998) und CDU-Chef (25 Amtsjahre). Er war ein begeisterter Europäer und einer der wichtigsten Architekten Europas. 1991 war er im niederländischen Maastricht einer der Protagonisten der Gründung der Europäischen Union. Später kämpfte er unermüdlich für die Einführung des Euro.
Und er war eben der „Kanzler der Einheit“. Kohl hatte immer an die Wiedervereinigung geglaubt und die historische Chance dann gegen Widerstände im In- und Ausland ergriffen. Dafür führte er zähe Verhandlungen in Moskau mit Michail Gorbatschow, in Washington mit George Bush, in Paris mit Präsident François Mitterrand und in London mit Margret Thatcher.
Mit seinem Versprechen der „blühenden Landschaften“ im Osten weckte er große Hoffnungen vieler DDR-Bürger. Zu große, denn bald war klar, dass alles viel langsamer wachsen und viel teurer würde. Enttäuschung machte sich breit. 1991 bewarf ein Mann Kohl in Halle an der Saale mit Eiern. Nicht nur am Kopf, auch im Herzen getroffen wollte der Kanzler sich auf den Werfer stürzen.
1947 hatte Kohl die Junge Union in Ludwigshafen mitgegründet. Mehr als 40 Jahre war er Parlamentarier, zuerst im Mainzer Landtag und von 1976 bis 2002 im Bundestag. Sieben Jahre war er Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Als erster deutscher Kanzler kam er durch ein konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 an die Macht. Die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt hatte abgewirtschaftet, war unter anderem an der Nachrüstung - der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen - gescheitert.
Dabei hatte CSU-Übervater Franz Josef Strauß 1976 prophezeit: „Herr Kohl (...) wird nie Kanzler werden. Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“ Strauß selbst scheiterte dann mit seiner Kanzlerkandidatur der Unionsparteien 1980. Als Bayerischer Ministerpräsident blieb Strauß bis zu seinem Tod 1988 aber für Kohl ein nicht beherrschbares Kaliber in der Union.
Mit einer „geistig-moralischen Wende“ wollte Kohl eine neue Epoche in Deutschland einleiten. Dass er 1990 als Kanzler wiedergewählt wurde, hatte er wohl vor allem der Begeisterung der Menschen für die Wiedervereinigung zu verdanken. Bis zu seiner Wahlniederlage 1998 gegen Gerhard Schröder (SPD) erlebte eine ganze Generation bis dahin keinen anderen Bundeskanzler.
Und genau das war für viele dieser Generation das Problem: Kohl, Kohl, Kohl. Die Politik erschien festgefahren in alten und bekannten Strukturen. Mehltau statt Aufbruch. Mehr Schwarz-Weiß als Bunt. Als sich Kohl entgegen seines ursprünglichen Plans entschied, 1998 doch wieder selber anzutreten, war das für viele mehr Bedrohung als Verheißung. Man sehnte sich einfach nach einem Wechsel.
Kohl konnte Menschen mit Wärme, Fürsorge und Protektion für sich einnehmen. Aber er kannte eigentlich nur Freund oder Feind. Sein langer Arm als Kanzler und Parteichef beförderte Karrieren - und vernichtete sie. Sah er einen Menschen als Gegner, war dessen politische Zukunft meistens schon Vergangenheit. Wen er als Talent ansah, stieg auf. So Angela Merkel (sein „Mädchen“), die er 1991 zu seiner Bundesfrauenministerin machte. Wie stark die Pfarrerstochter aus der DDR einmal werden würde, mag er nicht abgesehen haben.
Im Zuge der Spendenaffäre zerbrach auch seine Verbindung zu Wolfgang Schäuble, seinem langjährigen Vertrauten, der unter Merkel erst Innen- und dann Finanzminister wurde. Mit anderen engen Weggefährten kam es zum Bruch, weil sie sich von Kohls Kurs distanzierten. In einem NDR-Interview, das 2003 geführt, aber erst im März 2015 ausgestrahlt wurde, machte Kohl in dem ihm eigenen groben Ton („barbarischste Erinnerungen“) deutlich, von wem er sich alles schlecht behandelt und falsch verstanden fühlte: Heiner Geißler, Rita Süssmuth, Norbert Blüm, Richard von Weizsäcker und einigen mehr.
In dem Interview erzählte er auch von der schweren Zeit der Erkrankung seiner Frau Hannelore. Eine schmerzhafte Lichtallergie zwang sie zu einem Leben in Dunkelheit im gemeinsamen Haus in Oggersheim - auch für Kohl eine Belastung. 2001 nahm sich Hannelore dort das Leben. 41 Jahre war Kohl mit ihr verheiratet. 2008 heiratete er die 34 Jahre jüngere Maike Richter. Kurz zuvor hatte er bei einem Sturz nach einer Knie-Operation ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Seither saß er im Rollstuhl und konnte nur noch schwer sprechen.
Von der Hochzeit erfuhren seine Söhne Walter und Peter nur durch ein Telegramm, die Details aus der Zeitung. 2011 schrieb Walter Kohl in einem Buch, dass für seinen Vater die wahre Familie nicht Frau und Kinder, sondern die CDU gewesen sei. Als Vater habe er versagt. 2013 sagte der Sohn, er habe sich mit seinem Vater versöhnt. Die Versöhnung sei aber „einseitig“ gewesen.
Maike Kohl-Richter wurde von verschiedenen Seiten verantwortlich gemacht für die Entfernung ihres Mannes von seinen Söhnen und alten Vertrauten wie seinem Fahrer „Ecki“ Seeber. Kohls früherer Ghostwriter Heribert Schwan erklärte Kohls zweite Ehefrau offen zu seinem „Feindbild“. Sie habe seine Arbeit mit Kohl beendet und die „Deutungshoheit“ über seine Kanzlerschaft angestrebt, sagte Schwan. Später verkehrten Kohl und Schwan nur noch über die Gerichte.
Akten und Unterlagen, die Kohl 1998 dem Archiv der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung überlassen hatte, ließ er 2010 wieder abholen. Das Bundesarchiv in Koblenz erhebt Anspruch zumindest auf die Unterlagen, die Kohl in seiner Eigenschaft als Kanzler betreffen.
Seit Kohls Sturz 2008 wurden seine öffentlichen Auftritte selten. Bei einem Festakt zum 30. Jahrestag seiner ersten Kanzlerwahl im September 2012 bedankte er sich für die vielen Würdigungen - und bei denen, die ihn provoziert und herausgefordert hätten. Er sagte: „Es war eine fantastische Zeit.“
Im Juli 2014 gratulierte er Merkel zu ihrem 60. Geburtstag via „Bild“ nicht ohne geistreichen Seitenhieb: „Wenn Sie heute zurückblicken, können Sie dies in der Gewissheit tun, die Gelegenheiten genutzt zu haben, die sich Ihnen in Ihrem wechselvollen Leben boten. Sie nutzten Ihre Chance und machten sich auf den Weg, der Sie bis an die Spitze unseres Landes brachte.“
Im November 2014 stellte Kohl in Frankfurt am Main sein Buch „Aus Sorge um Europa“ vor, seine Frau Maike saß mit auf dem Podium. Alle Welt konnte erleben, wie wach sein Verstand und wie schwach er ohne Hilfe war. Wenig später nahm er in Dresden an einem Festakt zum 25. Jahrestag seiner Rede vor der zerstörten Frauenkirche teil. Seinen Zustand beschrieb der Festredner und frühere österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel dort so: Kohl - ein „gefesselter Riese“.