50 000 Menschen in Haft Ein Jahr nach dem Putsch: Verrätern „die Köpfe abreißen“
Ankara (dpa) - Nach dem Putschversuch vor einem Jahr erklärte die türkische Regierung den 15. Juli zum „Tag der Demokratie und der Nationalen Einheit“. Wenn das Parlament in Ankara ein Indikator dafür ist, dann ist es um diese Einheit nicht übermäßig gut bestellt.
Als Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Nacht zu Sonntag im Garten der Nationalversammlung seine Ansprache zum Jahrestag des Putschversuches hielt, war von der Opposition nichts zu sehen. Die beiden größten Oppositionsparteien, die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP, hatten angekündigt, der Gedenkveranstaltung fernzubleiben.
Das liegt nicht daran, dass die CHP und die HDP den Putschversuch gutgeheißen hätten - im Gegenteil: In den vergangenen Jahren zeigten sich die im Parlament vertretenen Parteien nie so geschlossen wie damals, als Teile des Militärs Erdogan entmachten wollten. Einmütig verurteilten sie den Putschversuch, wozu einiger Mut gehörte: Zu dem Zeitpunkt war noch unklar, wer die Oberhand behalten würde. Was seitdem allerdings geschehen ist, spaltet die Parteien und das Volk.
Die Lesart der Opposition: Der Präsident missbraucht den nach dem Putschversuch von ihm verhängten Ausnahmezustand dazu, seine Macht auszubauen und die Türkei weg von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu führen. Erdogan weist diese Kritik zurück - und versucht, sie durch sich selbst zu entkräften: Der Präsident argumentiert, wäre er - wie von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu behauptet - ein Diktator, dann würde er solche Kritik ja gar nicht zulassen.
Bei der nächtlichen Gedenkveranstaltung am Parlament hatte der Staatschef kritische Worte allerdings gar nicht erst zu befürchten: Nach einigem Hickhack standen auf der Rednerliste am Schluss nur noch Erdogan und Parlamentspräsident Ismail Kahraman. Auch Kahraman gehört Erdogans AKP an. Nachdem Kilicdaroglu keinen Platz auf der Rednerliste fand, lehnte die CHP eine Teilnahme empört ab. Die HDP hatte schon davor mitgeteilt, ihre Abgeordneten würden nicht kommen.
Damit fand diese Gedenkveranstaltung de facto ohne die Opposition statt. Zu ihr zählt theoretisch zwar auch die kleinste Partei im Parlament, die ultranationalistische MHP. Deren Vorsitzender Devlet Bahceli ist aber längst ins Erdogan-Lager gewechselt.
CHP-Chef Kilicdaroglu nutzte stattdessen eine Sondersitzung des Parlaments am Samstagmittag für eine Abrechnung. In einem Seitenhieb auf die politische Führung forderte er die Bestrafung derjenigen, die den Putschisten erlaubt hätten, „die sensibelsten Positionen im Staat“ zu infiltrieren. Der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen - den der Präsident für den Putschversuch verantwortlich macht - war über viele Jahre hinweg ein enger Weggefährte Erdogans.
Kilicdaroglu beklagte außerdem den Zustand des Rechtsstaats in der Türkei: „Die Justiz ist zerstört“, sagte er. Erdogans rhetorisch schärfster Gegner - HDP-Chef Selahattin Demirtas - teilt diese Meinung bekanntermaßen. Im Parlament äußern konnte er sie nicht: Demirtas sitzt seit vergangenem November in Untersuchungshaft. An seiner Stelle sprach am Samstagmittag HDP-Vizechef Ahmet Yildirim, der den anhaltenden Ausnahmezustand „einen weiteren Putsch“ nannte.
Den Ausnahmezustand will die Regierung in den kommenden Tagen zum vierten Mal verlängern. Das Prozedere dazu geht so: Der Nationale Sicherheitsrat empfiehlt die Verlängerung, das Gremium tagt unter dem Vorsitz Erdogans. Das Kabinett entscheidet über die Empfehlung - ihm steht im Ausnahmezustand Erdogan vor. Zustimmen muss schließlich das Parlament, wo die AKP über die dafür notwendige absolute Mehrheit verfügt. Chef der AKP ist seit kurzem wieder Erdogan.
Im Ausnahmezustand kann der Präsident mit Notstandsdekreten regieren, die nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden können. Erdogan macht davon regen Gebrauch. Rund 150 000 Staatsbedienstete wurden per Erlass suspendiert oder entlassen, weil sie angeblich Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben sollen. Sogar profane Dinge wie die Winterreifenpflicht wurden in den vergangenen Monaten per Dekret bestimmt - obwohl die Verfassung vorsieht, dass die Erlasse nur Angelegenheiten des Ausnahmezustands regeln sollen.
Im Zusammenhang mit dem Putschversuch wurden außerdem mehr als 50 000 Menschen in Untersuchungshaft gesperrt. Hinter Gittern sind derzeit auch der Vorsitzende und die Direktorin von Amnesty International in der Türkei. Als Erdogan 1999 wegen einer Rede ins Gefängnis musste, setzte sich die Menschenrechtsorganisation für seine Freilassung ein.
Dass Erdogan von seinem harten Kurs nicht abweichen will, daran ließ er am Samstagabend bei einer Ansprache auf der Istanbuler Bosporusbrücke - die seit dem Putschversuch „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ heißt - keinerlei Zweifel. Unter dem Jubel zahlreicher Anhänger bekräftigte der Präsident seine Bereitschaft dazu, die Todesstrafe wieder einzuführen. Und er sagte, er wisse, wer hinter Terrororganisationen wie der Gülen-Bewegung, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) stehe. „Diesen Verrätern werden wir zuerst die Köpfe abreißen.“