„Eine furchtbare Zeit“ - NSU-Prozess bewegt Migranten
Berlin (dpa) — Seit Wochen wird über die Presseplätze beim Münchner NSU-Prozess gestritten, die Türkische Gemeinde in Deutschland wirft der Justiz Fehleinschätzungen vor.
Wie groß das Interesse der Migranten an dem Verfahren ist, wird gerade auch in Berlin-Kreuzberg deutlich. Dort und im Nachbarbezirk Neukölln lebt die größte türkische Gemeinde außerhalb des Landes am Bosporus.
„Das Problem heißt Rassismus — wir schauen hin“, so der Titel einer bewegenden Veranstaltung am Freitagabend im Kreuzberger „Nachbarschaftshaus“ Urbanstraße. Der Andrang ist riesig, die Stühle im Saal reichen nicht aus. Ziel der Veranstalter: Nicht nur über die Ermittlungspannen im Zusammenhang mit der jahrelangen Mordserie der rechtsterroristischen Zelle NSU reden, sondern auch über den „strukturellen Rassismus“ in Deutschland.
Der Familienvater Mehmet Kubasik war am 4. April 2006 in Dortmund als vermutlich achtes Opfer der Neonazi-Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ermordet worden. In Berlin äußert sich seine Ehefrau Elif Kubasik erstmals in der Öffentlichkeit zu ihrem Schicksal - und zu den Anschuldigungen, die sie ertragen musste.
Die Polizei habe nach dem Mord ausschließlich gegen ihre Familie und in „absurde“ Richtungen ermittelt, sagt sie. Es sei immer nur um angebliche Verbindungen ihres Ehemannes ins Drogenmilieu und zur Mafia gegangen. Mit Spürhunden hätten Beamte die Wohnung durchsucht - in der Folge sei die türkischstämmige Familie von den Nachbarn als kriminell abgestempelt worden. „Es war eine furchtbare Zeit“, sagt Elif Kubasik.
Im Saal ist es ganz still, als die Witwe redet, viele blicken betroffen zu Boden. In ein paar Tagen wird Elif Kubasik als eine von 71 Nebenklägern zum Prozess gegen die mutmaßlichen NSU-Terroristen und Terrorhelfer nach München reisen.
Auf dem Podium in der Urbanstraße sitzt auch Esin Erman, die in Berlin muttersprachliche Psychotherapie für Migranten anbietet. Nach ihren Worten ist der Vertrauensverlust in der „türkischen Community“ wegen des NSU-Fahndungsdesasters groß. „Das sehe ich bei meinen Gesprächen mit meinen Klienten.“ Erschütternd war für Erman auch, dass viele Migranten nach Bekanntwerden der rechtsterroristischen Mordserie gar nicht mit Entsetzen reagiert hätten. „Es war eher eine bittere Bestätigung dessen, was man schon geahnt hatte.“
Bei der Diskussion im Kreuzberger Nachbarschaftshaus wird simultan übersetzt, an der Kopfhörer-Ausgabe bildet sich eine lange Schlange. Wenn in anderthalb Wochen vor dem Münchner Gericht der NSU-Prozess beginnt, könnte es aber Verständigungsprobleme geben. Denn bei der Vergabe der 50 reservierten Presseplätze gingen türkische Medien leer aus, obwohl acht der zehn Mordopfer türkische Wurzeln haben. Die türkische Zeitung „Sabah“ will gegen die Vergabe der Plätze klagen, auch die „Hürriyet“ denkt über einen solchen Schritt nach. Müssten die Zeitungen beim Prozess dennoch draußen bleiben, blieben auch viele türkischstämmige Menschen außen vor - nicht nur in Kreuzberg.