Erdogans Blick gen Osten Eskalation zwischen der Türkei und der EU
Istanbul (dpa) - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wartet die Abstimmung im Europaparlament nicht einmal ab. Schon am Tag vor der Empfehlung aus Straßburg, die Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren, lässt der Staatschef seinem Ärger über die EU-Volksvertreter freien Lauf.
„Ich rufe allen, die uns vor den Bildschirmen zusehen, und der ganzen Welt zu: Egal wie das Resultat ausfällt, diese Abstimmung hat für uns keinen Wert“, polterte Erdogan in Istanbul. Die Resolution vom Donnerstag mag nur symbolischen Charakter haben. Dennoch vertieft sie die Kluft zwischen der EU und der Türkei, die inzwischen kaum noch überwindbar erscheint.
Die EU-Kommission führt die Beitrittsgespräche mit der Türkei, die allerdings schon lange nicht mehr von Verhandlungen, sondern von Schuldzuweisungen dominiert werden. Die Resolution verpflichtet die Kommission zwar zu nichts. Sie ist aber das bislang deutlichste Signal an Ankara, dass Europa nicht stillschweigend zusehen möchte, wie Erdogan die Demokratie und die moderne Türkei „zerstört“ - so drückt es SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann aus. Erdogan verbittet sich jede Einmischung und erlässt weiter Notstandsdekrete, die die Sorgen der EU um den Rechtsstaat stetig untermauern.
Längst sorgt das Vorgehen Erdogans nicht mehr nur für Kopfschütteln, sondern für Entsetzen in der EU. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte kürzlich im Deutschlandfunk: „Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Nazi-Herrschaft benutzt wurden.“ Der türkische EU-Minister Ömer Celik sieht seine Regierung dagegen eher in der Tradition des antifaschistischen Widerstandes, glaubt man seinen Worten. Das Vorgehen gegen Terrorverdächtige in der Türkei sei mit dem „Kampf gegen die Nazis“ vergleichbar, meint er.
Zwar wollen bislang weder die EU-Kommission noch die Bundesregierung die Beitrittsverhandlungen beenden, weil sie den Gesprächsfaden nach Ankara nicht abreißen lassen wollen - in der zunehmend verzweifelten Hoffnung, eine Abkehr der Türkei von Europa noch abwenden zu können. Ein europäischer Diplomat meint allerdings: „Erdogan interessiert es überhaupt nicht, was die EU sagt.“ Erdogan droht nun damit, den Spieß umzudrehen. Er fordert von der EU eine Entscheidung über einen Abbruch oder eine Fortsetzung der Gespräche bis Jahresende - und will ansonsten die Türken in einem Referendum darüber entscheiden lassen.
„Die Europäische Union versucht uns regelrecht zu zwingen, aus dem Prozess auszusteigen“, kritisiert Erdogan. Er fügt nicht ganz unzutreffend hinzu: „Die EU hält uns seit vollen 53 Jahren hin.“ Eine Volksabstimmung über ein Ende der Beitrittsverhandlungen könnte Erdogan sich allerdings sparen, wenn er die Todesstrafe in der Türkei wieder einführen lässt. Damit wäre nicht nur der EU-Beitrittsprozess automatisch beendet, wie die EU-Kommission immer wieder betont und auch das Parlament am Donnerstag gefordert hat.
Die Türkei flöge zudem aus dem Europarat, in der die Türkei seit 1950 Mitglied ist. Damit wäre auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - eines der Organe des Europarates - nicht mehr für das Land zuständig. Türken könnten ihren Staat nicht mehr wegen Menschenrechtsverletzungen in Straßburg verklagen, was Ankara eine Fülle von Prozessen ersparen könnte: Wegen des harten Vorgehens der Regierung unter dem Ausnahmezustand sind bereits mehr als 3000 Beschwerden bei dem Gerichtshof eingegangen.
Erdogan hatte schon im April im Streit um die Visumfreiheit gesagt: „Mehr noch als die Türkei die Europäische Union benötigt, braucht die Europäische Union die Türkei.“ Das mag in der Flüchtlingskrise richtig sein, wobei sich auch hier Stimmen in der EU mehren, die nicht mehr von Erdogans Drohungen abhängig sein und den Pakt aufkündigen wollen. In der Wirtschaft gilt die Formel aber nicht. Dort sieht es zunehmend düster aus - und der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei hat Erdogan seinen Aufstieg maßgeblich zu verdanken.
Dennoch hält Erdogan die EU nicht für alternativlos. Erst vor wenigen Tagen brachte er eine Hinwendung der Türkei zu Russland und China ins Spiel. Während die EU im Streit mit Erdogan bislang mit Mahnungen und symbolischen Gesten operiert, pflegt der russische Präsident Wladimir Putin allerdings eine ganz andere Streitkultur.
Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei vor einem Jahr nannte Putin die Regierung in Ankara nicht nur „ein verräterisches Regime“. Er verhängte zugleich so schmerzhafte Sanktionen, dass Erdogan sich am Ende zu einem für ihn ungewöhnlichen Schritt gezwungen sah: Er musste sich entschuldigen. So schnell aber vergibt Putin ganz offensichtlich nicht, auch wenn Erdogan ihn bei einem Treffen im August „meinen geschätzten Freund“ nannte. Mehr als ein Vierteljahr später sind viele der Sanktionen immer noch in Kraft.