Ezra, Yonas und die anderen - Im Fluchtzug über die Alpen
Bozen (dpa) - Er hat die Sahara durchquert, in einem Seelenverkäufer auf dem Mittelmeer sein Leben aufs Spiel gesetzt, sich bis zu den Alpen vorgearbeitet. Und jetzt steht Ezra Brhane vor dem Fahrkartenautomaten am Brenner.
Nur noch ein Tastendruck trennt ihn vom gelobten Land.
Nur noch wenige Meter bis zum Bahnsteig, wo der österreichische Regionalzug nach Kufstein an der deutschen Grenze wartet. Es ist die letzte Etappe auf der langen Reise von Eritrea in die Mitte Europas, nach Deutschland. Gäbe es sowas wie ein Drehbuch für Migranten, würde jetzt dort stehen: Du bist fast da, jetzt musst Du springen.
Das ahnt der 31-Jährige wohl, der seit Wochen unterwegs ist. Auch der lustige Yonas (16) in seinen kurzen Hosen, dem gelben Kapuzenpulli und den cremefarbenen Lederschuhen, die er eben noch am Bahnhof in Bozen (Südtirol) ergattern konnte, und die 26-jährige Hadas mit ihrem strahlenden Lächeln können ihre Unruhe nicht verbergen. Mit den Augen suchen sie nach einer Gewissheit, die ihnen hier niemand geben kann.
Sie haben Fragen. Viele Fragen. Wird sie die Polizei aus dem Zug holen? Werden sie Fingerabdrücke nehmen? Was ist mit dem Bargeld? Und wie ist Deutschland? Auch die anderen in der Gruppe, die etwa 70 meist jungen Männer und die wenigen Frauen, wirken ratlos und müde. Seit Mitternacht waren sie im InterCity aus Rom nach Bozen unterwegs, stiegen dann um in einen Zug zum Brenner.
Sie wollen nur schnell weiter nach Deutschland. Oder in die Niederlande oder Dänemark. Dafür haben sie gespart, die Familien haben gesammelt und die Tüchtigsten auf den Weg geschickt. Sie berichten von den Schleusern in Libyen, von Schlägen und Drohungen. Manchmal ist von 2000, manchmal von 4000 Dollar für die Reise die Rede.
800 000 Flüchtlinge werden 2015 nach Deutschland ziehen, so die jüngste Prognose. Viele von ihnen über die Alpen. Einige davon wagen sich direkt in den Zug nach München, andere schlagen sich in den Alpen Schritt für Schritt in Regionalbahnen durch - wie die Gruppe an diesem Tag.
Rückblick: Auf zwei Waggons hatten sie sich in Rom verteilt. Manche wachen gerade auf, als der Zug in Bozen einfährt, noch immer gezeichnet von den Strapazen der vergangenen Wochen. Am Bahnhof wartet wie jeden Morgen die italienische Polizei auf den 8.05-Uhr-Zug.
„Es sind Hunderte, jeden Tag“, sagt die Beamtin der „Polizia Ferroviaria“, die ihren Namen ungern verraten möchte. Auch ein paar von der Bereitschaftspolizei schauen vorbei. Sie wissen: Nach zwei Stunden ziehen die Flüchtlinge weiter. „Marcare presenza“, heißt im Polizei-Italienisch die zurückhaltende Taktik. Zeigen, dass man da ist. Nach einem Reisepass oder sonstigen Papieren fragt hier niemand.
Und so stehen sie an diesem Sommertag zwischen Mountainbikern und Wanderern - die globalen Fluchtwege führen durch Europas Freizeitgesellschaft.
Zum Empfangskomitee gehören auch ein paar Damen und junge Helfer von Volontarius. Seit April versorgt die Bozener Hilfsorganisation am Bahnhof die Flüchtlinge, die Freiwilligen verteilen Getränke und Knabberzeug, Kleider und Schuhe, helfen beim Fahrkartenkauf. Dann setzen sie die Migranten in den Zug in Richtung Brenner.
„Wir wollen ihnen die Angst vor dem letzten Schritt nehmen“, sagt Volontarius-Sprecher Roberto Defant, der einen Blick in den Raum mit den Durchreisenden nicht zulässt. Wortreich beschreibt der 58-Jährige seine Sicht der Dinge. „Es kommen Menschen, keine Flüchtlinge“, sagt er und spricht vom „Traum des Migranten“, zu dem Volontarius einen kleinen Beitrag leisten wolle. Defant klingt so, als ob man sie hier so schnell wie möglich loswerden wolle.
Ausweichend reagiert er auf die Frage, warum sich die Polizei nicht nach den Dokumenten der Flüchtlinge erkundige. „Jeder macht, was er kann“, sagt er. Ginge es nach den EU-Regeln, hätten die Flüchtlinge bei der Ankunft in Italien, etwa in Lampedusa, registriert werden müssen. Dann müssten sie aber auch in Italien einen Asylantrag stellen.
Die Polizisten am Bahnhof bleiben gelassen. „Die Politiker wollen es so“, sagt einer von ihnen. Man könne die Weltprobleme eben nicht in Bozen lösen. Achselzucken. Auf Bahnsteig 3 ist gerade die Wirklichkeit der europäischen Asylpolitik hautnah zu erleben.
Auch Ezra Brhane will weiterziehen. Seitdem er aus Khartum im Sudan aufbrach, wo er seine Frau und drei Kinder zurückließ, hat er sein Ziel nicht aus den Augen verloren. Nicht in der Wüste, wo er mit Dutzenden anderen die Sandpisten und die bewaffneten Banden überstand, auch nicht in den Hausruinen bei Tripolis. Dort wartete er zwei Wochen auf das Schiff nach Lampedusa.
Ezra wollte nur weg, weit weg vom lebenslangen Militärdienst, mit dem Eritreas Militärregierung etwa 400 000 Menschen wie in einem landesweiten Lager gefangen hält. Weg von der Armut, der stumpfen Sinnlosigkeit. „Ich will ein gutes Leben für meine Kinder und etwas Seelenfrieden“, sagt er in gebrochenem Englisch - „a little peace of mind“.
Brhane erzählt eine Geschichte, wie sie auch andere im Zug erzählen. Sie sprechen von einem ruinierten Land, von Willkür, Hunger und miserablen Schulen. Er war mitten im Tiermedizin-Studium, dann wurde er verhaftet, warum, weiß er bis heute nicht, sagt Brhane. Drei Jahre war er im Gefängnis, konnte sich arrangieren, Mitgefangene unterrichten. Irgendwann flüchtete er. Nach einem Drei-Tages-Marsch tauchte er in der Hauptstadt Asmara unter, bis er seine Familie im Sudan in eine fragile Sicherheit brachte.
Manchmal hören sich die Schilderungen etwas hölzern an, wie auswendig gelernt für eine Befragung. „Ich wurde politisch verfolgt“, sagt Brhane. „Ich will Demokratie.“ Wenn er ins Detail gehen will, fehlen ihm die Worte.
Nicole Hirt kennt solche Berichte. Die Eritrea-Expertin vom Hamburger Forschungsinstitut GIGA sagt, die Militarisierung habe das Land am Roten Meer zugrunde gerichtet. Nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien (1998-2000) sei Eritrea in einen desolaten Zustand verfallen. Seither herrsche wegen Grenzstreitigkeiten „weder Krieg noch Frieden“. Die Regierung habe einen zeitlich unbefristeten Militärdienst angeordnet. Hirt spricht von „institutionalisierter Zwangsarbeit“ für jeden nach dem 12. Schuljahr. Wer das Land verlasse, sei automatisch ein Deserteur. Ein politischer Wille, das zu ändern, sei nicht erkennbar.
Und sie kennt auch diese Sprachlosigkeit. „Wie soll ein in einer Diktatur aufgewachsener Eritreer, dessen Land den letzten Platz weltweit in puncto Pressefreiheit einnimmt, genau wissen, was „politische Verfolgung“ ist“, fragt sie. Es wäre undenkbar, dass ein Eritreer daheim solche Worte auch nur in den Mund nimmt. „Wenn ihm jemand sagt, um Asyl zu bekommen, muss er das sagen, ist es irgendwie verständlich, dass er damit nicht so viel anzufangen weiß, oder?“
Ezra Brhane sieht durch das Zugfenster ein Postkarten-Panorama - und denkt an seine Kinder in Khartum. Sechs Jahre, drei Jahre und sechs Monate alt seien sie. Dann will der Schaffner die Fahrkarten sehen. Viele können nichts vorzeigen. Der Mann von den Österreichischen Bundesbahnen schaut weg. „Wir holen die Polizei“, sagt er nur knapp. In Kufstein ist von Polizei nichts zu sehen. Von Khartum bis Kufstein - Ezra Brhane hat es jetzt fast geschafft. Nur noch einmal umsteigen in den Zug nach Deutschland.
Erst Italien, dann Österreich, jetzt Deutschland - dass Ezra Brhane in drei Stunden in drei Ländern war, merkt er, als er auf sein Smartphone blickt. Er wollte seine Frau anrufen, hat aber kein Zugang mehr zum italienischen Netz, in ein neues kann er sich nicht einwählen. Ezra Brhane bekommt die Grenze erst auf dem Display zu spüren.
Tibaku und Alyas haben sich derweil vor die Zugtoilette gesetzt. Die beiden Männer wundern sich über die runde Schiebetür, reißen dumme Witze. Tibaku sagt, er sei 25 Jahre alt, Alyas 22. Wirklich 22? Alyas hat schütteres Haar, ein wenig vom jugendlichen Schalk ist noch da. Nach 22 sieht er aber nicht aus. „Doch, doch“, sagt er. Und nach einer Weile fragt er zurück: „Welches Alter soll ich denn der Polizei am besten sagen?“.
Lange wird sich die Bundespolizei mit Alyas Alter wohl nicht befassen. Etwa 20 Beamte warten schon am Bahnhof in Rosenheim. Freundlich, aber bestimmt holen sie die Eritreer aus dem Zug. Dann müssen sie auf den Stufen der Unterführung warten. Armband, Klarsichtfolie, Formular - die Polizisten beglücken sie mit etwas deutscher Bürokratie. Auf dem Bahnsteig haben sie ein Büro improvisiert. Für Kinder gibt es Teddybären, Frauen werden hinter einem Vorhang kontrolliert.
Eine Einheit aus Ratzeburg in Schleswig-Holstein ist in diesen Tagen für die Kontrollen zuständig. Längst stößt die Bundespolizei an ihre Personalgrenzen. Mancher Polizist schüttelt den Kopf, wenn er von der Gelassenheit der italienischen Kollegen auf der anderen Seite hört.
Allein in den ersten drei August-Wochen holten sie in Rosenheim 5800 Flüchtlinge aus den Zügen. Im Juli waren es noch 6400, mehr als 2012 und 2013 zusammen. „Please, this way“, sagt ein Beamter. Aus der Unterführung blickt Ezra Brhane nach oben. Was ihn jetzt erwarte? Auch Fingerabdrücke? Ja, auch er wird in die digitale Kartei Eurodact aufgenommen, sagt Rainer Scharf, Sprecher der Bundespolizei in Rosenheim. Wenn er einmal registriert ist, wird Brhane an Deutschland gebunden sein.
Die Diaspora aus Eritrea ist auf ganz Europa verteilt, Brhane hat Freunde in den Niederlanden, die ihm dort Starthilfe geben könnten. Das wird nun schwerer. Die Flüchtlinge bekämen mit der Identifizierung auch ein wenig Rechtssicherheit, würden frei vom Druck der Schleuser, könnten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, sagt Rainer Scharf.
Dann schließt sich die Bustür und Ezra blickt noch einmal durch das Rückfenster. Jetzt geht es zur Registrierung in eine Sporthalle, morgen wird er wieder frei sein. Später wird es im Polizeibericht heißen: „Von den 73 unerlaubt Eingereisten stammen 60 aus Eritrea, neun aus Syrien und jeweils einer aus Senegal, Somalia, Äthiopien und der Türkei.“ Bald will Ezra Brhane seine Kinder und seine Frau nachholen. Das weiß er ganz sicher. „I will do my best“, sagt er.