Immer mehr Tote im Zentrum von Kiew
Kiew (dpa) - Zwischen den Orten liegen nur wenige hundert Meter: Im Kiewer Präsidentenamt verhandeln westliche Außenminister mit Präsident Janukowitsch - am Unabhängigkeitsplatz liegen zahlreiche Tote.
Ungeachtet des europäischen Vermittlungsversuches eskalieren die Proteste in der ukrainischen Hauptstadt. Die Zeitung „Kyiv Post“ berichtet am Donnerstag von mehr als 30 Toten - nur Stunden nach dem erklärten Gewaltverzicht von Regierung und Oppositionsführung.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seine Kollegen aus Frankreich und Polen verhandelten stundenlang mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, um die Gewalt zu beenden. Der Führung um Janukowitsch drohen abgestimmte Strafmaßnahmen der Europäischen Union und der USA.
Allein am Unabhängigkeitsplatz (Maidan) zählte die Opposition 13 Tote. Die Regierungsgegner seien von Scharfschützen erschossen worden.
„Wir sehen die Situation außer Kontrolle“, sagte der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko. Wenige hundert Meter von den Auseinandersetzungen entfernt trafen die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zusammen.
Das Gespräch im Präsidentenamt dauerte auch am Mittag noch an. Bis dahin hatte die Runde bereits über zwei Stunden verhandelt. Zu dem Vermittlungsgespräch waren weder Journalisten noch TV-Kameras zugelassen, berichtete ein dpa-Reporter am Donnerstag aus dem Begleittross.
Steinmeier wird von den Außenministern des sogenannten Weimarer Dreiecks, Laurent Fabius aus Frankreich und Radoslaw Sikorski aus Polen, begleitet. Am Nachmittag wollten die 28 EU-Außenminister in Brüssel über Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Gewalt in den vergangenen Tagen beraten.
Radikale Demonstranten drangen am Morgen ins Regierungsviertel vor und vertrieben die Sicherheitskräfte, wie örtliche Medien berichteten. Der Regierungssitz sowie das Parlament seien von den Sicherheitskräften überstürzt geräumt worden. Parlamentssitzungen wurden abgesagt. Anführer der Regierungsgegner riefen die Demonstranten auf, zu den Barrikaden zurückzukehren.
Klitschko machte die Staatsführung für den Bruch des Gewaltverzichts verantwortlich. „Die Regierung hat vor den Augen der gesamten Welt zu blutigen Provokationen gegriffen“, hieß es in einer Mitteilung Klitschkos. „Bewaffnete Verbrecher wurden auf die Straßen gelassen, um Menschen zu verprügeln.“
Gemeinsam mit zwei anderen Oppositionspolitikern hatte Klitschko sich am Mittwochabend mit Janukowitsch auf den Gewaltverzicht geeinigt. Die radiale Oppositionsgruppierung Rechter Sektor teilte aber mit, diese Abmachung nicht anzuerkennen.
Bereits am Dienstag war es zu schweren Straßenschlachten gekommen. Dabei waren mindestens 28 Menschen getötet und wohl mehr als 1000 verletzt worden.
Regierungsgegner und Behörden warfen sich am Morgen gegenseitig vor, wieder gezielt aufeinander zu schießen. Dabei seien mindestens ein Polizist getötet und 29 verletzt worden, teilte das Innenministerium mit. Radikale Kräfte auf dem Unabhängigkeitsplatz nahmen nach eigenen Angaben einen Scharfschützen der Polizei gefangen. Protestierer stürmten den Oktoberpalast, ein Kulturzentrum.
Über dem Maidan standen wieder schwarze Rauchsäulen, Reifenberge brannten. Sirenen Dutzender Krankenwagen heulten. Unbestätigten Berichten zufolge liefen Dutzende Mitglieder der Einheiten des Innenministeriums zu den Regierungsgegnern über.
Die ukrainische Führung warnte die EU vor Strafmaßnahmen. „Sanktionen würden die Situation verschärfen, sie wären Öl ins Feuer“, sagte Präsidialamtschef Andrej Kljujew. „Bei Sanktionen droht die Gefahr, dass das Land in zwei Teile zerbricht.“
Die USA verhängten bereits Einreiseverbote für 20 Ukrainer, die für die Gewalttaten in der Nacht zum Mittwoch verantwortlich seien. US-Präsident Barack Obama verurteilte am Mittwoch (Ortszeit) die Eskalation der Gewalt in der Ukraine. „Es wird Konsequenzen haben, wenn Leute eine Linie überschreiten“, drohte Obama. Die USA erwarteten von der ukrainischen Regierung, im Umgang mit friedlichen Protestanten auf Gewalt zu verzichten.
Die Proteste hatten im November begonnen, nachdem Janukowitsch ein unterschriftsreifes Abkommen mit der Europäischen Union gestoppt und sich Russland zugewandt hatte. Moskau gewährte dem finanziell klammen Nachbarn daraufhin Milliardenkredite. Die Opposition fordert, dass die Vollmachten des Präsidenten zugunsten von Regierung und Parlament eingeschränkt werden. Außerdem verlangen sie Neuwahlen.
In Berlin rief Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die ukrainische Führung auf, nach der blutigen Gewalt schnellstmöglich zu Verhandlungen mit der Opposition zurückzukehren. Zu Beginn einer Bundestagsdebatte über die Lage in der Ukraine forderte er Janukowitsch auf: „Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht. Halten Sie weiteren Schaden von Ihrem Land und ihren Bürgern ab.“