Analyse: Erschüttertes Kiew hofft auf Ruhe
Kiew (dpa) - Nach dem blutigsten Tag seiner jüngeren Geschichte kommt Kiew auch am Mittwoch nicht zur Ruhe. Bis zum späten Abend droht neue Gewalt - dann kommt ein Hoffnungsschimmer in Sicht.
Trotzig rotten sich tagsüber Tausende Demonstranten auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz zusammen, dem Maidan. Mit starken Wasserwerfern spritzt die Polizei in die Menge, die aber nicht weicht. Feuerwerkskörper und Brandsätze fliegen auf die Reihen der schwer bewaffneten Sicherheitskräfte. Von einer Bühne aus peitschen Redner die Regierungsgegner zum Durchhalten auf.
Immer wieder erklingt die Nationalhymne. Choräle hallen über den strategisch wichtigen Maidan, wo noch vor wenigen Wochen Volksfeststimmung und friedliche Atmosphäre herrschte. Unablässig wabern Gerüchte über einen baldigen Sturm des Maidan durchs Internet.
Doch am späten Mittwochabend eine Wende: Präsident Viktor Janukowitsch und die Anführer der parlamentarischen Opposition vereinbaren einen Waffenstillstand und weitere Verhandlungen.
Für Kiew kann es die lange ersehnte Atempause sein, pünktlich zum erwarteten Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier und seiner Kollegen aus Polen und Frankreich. Zeit zum Durchschnaufen - für die verbarrikadierten Demonstranten, für die erschöpften Polizisten im Dauereinsatz, und für die Einwohner im Zentrum der Millionenstadt.
Den Tag über sind kaum Frauen und Kinder auf den Straßen zu sehen. An vielen Ecken wachen Verkehrspolizisten mit automatischen Waffen. Die Innenstadt wirkt wie ausgestorben, Geschäfte bleiben nach einem Aufruf der Behörden zu einem Ruhetag ebenso geschlossen wie Schulen und Kindergärten. Auch die Untergrundbahn als Hauptverkehrsader der Millionenmetropole Kiew steht still.
Mit Angst und Bangen warten Angehörige der Demonstranten auf Lebenszeichen. Für viele kommt jede Hoffnung zu spät. „Wir haben aus dem Radio erfahren, dass sie tot ist“, erzählt Taissija Schtschuzkaja dem Internetportal der Zeitung „Westi“ - ihre Schwiegermutter ist bei den blutigen Schlachten ums Leben gekommen. „Wir versuchten telefonisch, etwas bei der Miliz zu erfahren, doch dort sagten sie uns nichts“, klagt Schtschuzkaja.
Bisher sind nach offiziellen Angaben allein in Kiew 26 Menschen bei den Ausschreitungen ums Leben gekommen - Demonstranten wie Polizisten, darunter auch Schussopfer. Zudem sind offenbar mehr als 1000 Demonstranten sowie 300 Sicherheitskräfte verletzt worden, viele mit Schusswunden.
Noch ist völlig unklar, wer scharfe Munition einsetzt und warum. Gerüchte machen die Runde. Gibt es Scharfschützen? Entsandte womöglich aus Russland, in ukrainischen Uniformen? Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld an der für viele unerwarteten Eskalation.
„Es fließen Flüsse voll Blut“, schildert die Zeitung „Ukraina Moloda“ die beispiellosen Zusammenstöße in der Hauptstadt. Und die Zeitung „Segodnja“ spricht bereits von „Krieg“. Das riesige Gewerkschaftshaus direkt am Maidan ist rußgeschwärzt, Rauch zieht aus zersplitterten Fenstern. Hier hatten die radikalen Demonstranten ihr Hauptquartier. Doch schnell erobern die Protestierenden neue Rückzugsräume wie eine Bankfiliale.
Lange gibt sich der prorussische Präsident Janukowitsch unversöhnlich. Zwar spricht er in einer Mitteilung an sein Volk von „großem Schmerz“ und einer „Tragödie“. Aber er weist alle Schuld von sich - allein die Opposition um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko habe Schuld an der Eskalation, sie habe die Radikalen nicht im Griff. Auch deshalb zweifeln Kommentatoren, ob der brüchige Friede hält.
Auch die Regierungsgegner zeigen sich verbittert. Sie denken nicht an Aufgabe, sondern wollen kämpfen bis zum Sieg - und weisen die Vorwürfe zurück. „Nur Janukowitsch ist für den Terror und die Ermordung friedlicher Bürger verantwortlich“, sagt Klitschko in einer Videoansprache.
Während in der Hauptstadt die Angst um sich greift, kommen auch aus anderen Landesteilen immer neue Schreckensmeldungen. Von lebensgefährlich Verletzten ist die Rede. In ostukrainischen Städten werden Büros von Oppositionsparteien mit Brandsätzen angegriffen.
Indes rüstet sich der antirussisch geprägte Westen der Ex-Sowjetrepublik zum Aufstand. Etliche Verwaltungsgebäude werden gestürmt. Als Symbol ihres Erfolgs ketten Demonstranten in Luzk den Gouverneur des Gebiets Wolhynien an ihre Protestbühne.