Analyse: Kiew steht unter Schock
Kiew (dpa) - Nach dem blutigsten Tag seiner jüngeren Geschichte kommt Kiew nicht zur Ruhe. Es droht neue Gewalt. Trotzig rotten sich am Mittwoch die Demonstranten auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz zusammen, dem Maidan.
Etwa 5000 Menschen dürften es sein.
Unablässig spritzt die Polizei mit starken Wasserwerfern in die Menge, die sich mit behelfsmäßigen Schilden zu schützen versucht. Aber sie weicht nicht. Feuerwerkskörper und Brandsätze fliegen regelmäßig auf die Reihen der schwer bewaffneten Sicherheitskräfte. Von einer Bühne aus peitschen Redner die Regierungsgegner zum Durchhalten auf.
Immer wieder erklingt die Nationalhymne. Pastorale Choräle hallen über den strategisch wichtigen Maidan, wo noch vor wenigen Wochen Volksfeststimmung und friedliche Atmosphäre herrschte. Unablässig wabern Gerüchte über einen baldigen Sturm des Maidan durch das Internet.
Frauen und Kinder sind auf den Straßen in Kiews Zentrum kaum zu sehen. An vielen Ecken wachen Verkehrspolizisten mit automatischen Waffen.
Der Rest der Innenstadt wirkt wie ausgestorben, Geschäfte bleiben nach einem Aufruf der Behörden zu einem Ruhetag ebenso geschlossen wie Schulen und Kindergärten. Auch die Untergrundbahn als Hauptverkehrsader der Millionenmetropole steht still. Viele in Kiew rechnen damit, dass Präsident Viktor Janukowitsch schon bald den Ausnahmezustand erklärt. Dann könnte er etwa das Militär einsetzen, das sich bisher aus dem Machtkampf heraushält.
Mit Angst und Bangen warten Angehörige der Demonstranten auf ein Lebenszeichen ihrer Lieben. Für viele kommt jede Hoffnung zu spät. „Wir haben aus dem Radio erfahren, dass sie tot ist“, erzählt Taissija Schtschuzkaja dem Internetportal der Zeitung „Westi“ - ihre Schwiegermutter ist bei den blutigen Schlachten ums Leben gekommen. „Wir versuchten telefonisch, etwas bei der Miliz zu erfahren, doch dort sagten sie uns nichts“, klagt Schtschuzkaja.
Bisher sind nach offiziellen Angaben allein in Kiew 26 Menschen bei den Ausschreitungen ums Leben gekommen - Demonstranten wie Polizisten, darunter auch Schussopfer. Doch Beobachter befürchten noch mehr Tote. Zudem sind offenbar mehr als 1000 Demonstranten sowie 300 Sicherheitskräfte verletzt, viele schwer, viele mit Schusswunden.
Noch ist völlig unklar, wer scharfe Munition einsetzt und warum. Gerüchte machen die Runde. Gibt es Scharfschützen? Emissäre womöglich aus Russland in ukrainischen Uniformen? Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld an der für viele unerwarteten Eskalation m Blutbad.
„Es fließen Flüsse voll Blut“, schildert die Zeitung „Ukraina Moloda“ die beispiellosen Zusammenstöße in der Hauptstadt. Und die Zeitung „Segodnja“ spricht bereits von „Krieg“. Das riesige Gewerkschaftshaus direkt am Maidan ist rußgeschwärzt, Rauch zieht aus zersplitterten Fenstern. In dem Gebäude mit der charakteristischen Uhr auf dem Dach sollen Stockwerke im Feuer eingebrochen sein, die Rettungskräfte müssen sich zurückziehen. Hier hatten die radikalen Demonstranten ihr Hauptquartier.
Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen. Der prorussische Präsident Janukowitsch gibt sich unversöhnlich. Zwar spricht er in einer Mitteilung an sein Volk von „großem Schmerz“ und einer „Tragödie“. Aber er weist alle Schuld von sich, allein die Opposition um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko habe Schuld an der Eskalation: Sie habe die Radikalen nicht im Griff.
Auch die Regierungsgegner zeigen sich verbittert. Sie denken nicht an Aufgabe, sondern wollen kämpfen bis zum Sieg - und weisen die Vorwürfe zurück. „Nur Janukowitsch ist für den Terror und die Ermordung friedlicher Bürger verantwortlich“, sagt Klitschko in einer Videoansprache.
Während in der Hauptstadt die Angst um sich greift, kommen auch aus anderen Landesteilen immer neue Schreckensmeldungen. In Chmelnizki soll bei Protesten eine Frau angeschossen und lebensgefährlich verletzt worden sein. In ostukrainischen Städten werden Büros von Oppositionsparteien mit Brandsätzen angegriffen.
Indes rüstet sich der antirussisch geprägte Westen der Ex-Sowjetrepublik zum Aufstand. Offen ruft Andrej Sadowy, Bürgermeister der Großstadt Lwiw (Lemberg) die Polizei auf, zu den Regierungsgegnern überzulaufen. Und in Luzk fesseln Demonstranten den Gouverneur des Gebiets Wolhynien an ihre Protestbühne.