Japan ein Jahr nach „3/11“
Fukushima (dpa) - Japan sehnt sich nach Normalität. Doch ein Jahr nach der Dreifach-Katastrophe sitzt bei vielen Menschen die Angst vor der Strahlung und der Zukunft tief. Der Wiederaufbau kommt zwar voran, für viele aber zu langsam.
Den Mut verlieren die Japaner aber nicht.
Entlang der Straße türmen sich Berge voller Trümmer. Ein Sofa steckt im Schnee, daneben liegen zerborstene Möbel. Aus den Schutthaufen ragt Spielzeug. Etwas weiter stehen grotesk zerquetschte Autowracks in penibler Ordnung auf einem Parkplatz aufgereiht. So wie hier in Kamaishi in der nordostjapanischen Provinz Iwate sieht es an vielen Stellen in Japans Katastrophengebieten aus. Die Trümmer des Erdbebens und des Tsunamis vom 11. März 2011 sind ein Jahr nach der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg aufgeräumt, aber längst nicht beseitigt. Zwar haben viele Gemeinden inzwischen Wiederaufbaupläne im Entwurf ausgearbeitet, doch der Prozess der Meinungsbildung braucht Zeit.
Mehr als 15 800 Menschen verloren durch den Tsunami ihr Leben, mehr als 3000 werden noch vermisst. Entlang der 400 Kilometer langen Küste wurden 115 000 Gebäude vollkommen zerstört. Mehr als 341 000 Menschen mussten in Folge der Katastrophe ihre Heimat verlassen. Im Westen ist es jedoch der GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in Folge des Erdbebens und Tsunamis, der zum Inbegriff der Tragödie von „3/11“ geworden ist. Dabei hat die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl selbst kein einziges direktes Todesopfer gefordert.
Wer heute, ein Jahr nach der Dreifach-Katastrophe, durch die Hauptstadt Tokio geht, könnte meinen, die weltweit drittgrößte Industrienation sei zur Normalität zurückgekehrt. Das kollektive Stromsparen der ersten Monate scheint vergessen - und das, obwohl nach Sicherheitsüberprüfungen nur noch 2 der 54 Atomkraftwerke des Landes am Netz sind. Während in Deutschland der GAU zu einer Kehrtwende der Politik führte und die Regierung den Ausstieg aus der Atomkraft beschloss, verhalten sich die Japaner ziemlich unaufgeregt. Die Beteiligung an Demonstrationen gegen Atomkraft ist zwar spürbar gewachsen, insgesamt aber weiterhin gering.
Doch die Katastrophe ist in Japan weder vorüber, noch ist sie vergessen. Noch immer müssen Tausende von Menschen aus den Tsunami-Gebieten und den Evakuierungszonen um das havarierte Atomkraftwerk in einer der 53 000 Containerwohnungen leben, die in der Katastrophenregion errichtet wurden. Viele wissen nicht, wie es mit ihnen weitergehen soll. Die Flutwelle hat nicht nur ihre Häuser zerstört, sondern auch ihre Arbeitsplätze und damit ihre Lebensgrundlage - ein herber Schlag für die von der Überalterung und Abwanderung besonders betroffene Region.
Das Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden ist auch ein Jahr danach noch nicht vollständig abzusehen. Die überfluteten Küstengebiete sind durch die Versalzung für die Landwirtschaft nicht mehr nutzbar. Mehr als 87 000 Menschen sind vor den Strahlengefahren in Fukushima geflohen. Ganze Gemeinden werden auf Dauer umgesiedelt.
Manche Japaner wissen aus Angst vor Verstrahlung inzwischen nicht mehr, was sie essen sollen und was nicht. Besonders die Bauern in Fukushima, der einstigen Kornkammer Japan, leiden unter einem Strahlenstigma. Zwar laufen Versuche zur Dekontaminierung an, doch viele Menschen fragen sich, wie effektiv das ist.
Während sich die einen mit der erhöhten Radioaktivität abfinden, machen sich vor allem Mütter große Sorgen um ihre Kinder. Immerhin hat die Regierung jetzt deutlich strengere Grenzwerte für Lebensmittel beschlossen. Das soll auch zur Beruhigung in der Bevölkerung führen. Derweil haben Staat und Atombetreiber Probleme, lokale Regierungen zum Wiederanfahren der zu Inspektionen abgeschalteten AKW im übrigen Land zu bewegen. Aus den Regionen kommt spürbarer Widerstand gegen die Atompolitik.
Ähnlich hoch wie die Angst vor Strahlung ist auch die Angst der Japaner vor einem weiteren großen Erdbeben. Jüngste Studien weisen auf ein nach „3/11“ gestiegenes Risiko eines neuen Großbebens hin, in der Region Fukushima wie auch in Tokio.
Zugleich ist das jahrzehntelange blinde Vertrauen der Japaner in ihren Staat und seine Institutionen stark gesunken. Das Gefühl, enttäuscht oder gar belogen worden zu sein, schlägt in Misstrauen um. Das Volk musste miterleben, wie sich Regierung und Bürokratie mitten in der Krise in Kompetenzrangeleien ergingen und Krisenpremier Naoto Kan nach monatelangen Grabenkämpfen aus dem Amt gejagt wurde. Dass der Wiederaufbau weiterhin nur schleppend vorankommt, erklärt sich vor allem mit dem Gezerre der politischen Klasse um die Finanzierung.
Viele schenken zudem den Informationen, die Regierung und Medien zum Atomunfall verbreiten, kein Vertrauen mehr. Inzwischen weiß man, dass sowohl der Atombetreiber Tepco als auch die zuständigen Behörden auf eine Katastrophe diesen Ausmaßes vollkommen unvorbereitet gewesen sind. Die Reaktion auf das Unglück sei unkoordiniert gewesen, die Kommunikation mangelhaft, heißt es im Bericht einer Untersuchungskommission. Tepco habe wichtige Informationen nur langsam an die Regierung weitergegeben, diese wiederum schnitt beim Zusammentragen der Informationen schlecht ab.
Die Japaner vertrauen jetzt umso mehr auf ihre Familien, Freunde und die örtliche Gemeinschaft. Besonders bei jungen Japanern, die bisher eher geringes Engagement für lokale Belange gezeigt hatten, ändert sich die Einstellung: Hunderttausende Freiwillige leisteten und leisten noch immer einen enormen Beitrag bei den Aufräumarbeiten und der Versorgung der Opfer - und kompensieren vielerorts die Versäumnisse der Zentralregierung. Die Katastrophe ist ein entscheidender Impuls für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Japan. Manche Beobachter sprechen in Anlehnung an die 68er-Generation in Europa bereits von der „Generation 3/11“.