Jede Menge offene Fragen nach EU-Gipfel
Brüssel/Istanbul/Berlin (dpa) - Der große „Durchbruch“ lässt auf sich warten. Die EU will mit der Türkei einen großen Pakt schließen, um den Flüchtlingsandrang in Europa zu reduzieren. Ankara bietet an, Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen, wenn Europa in gleicher Zahl Syrer aus der Türkei holt.
Im Gegenzug verlangen die Türken drei Milliarden Euro zusätzlich für die Versorgung der Schutzsuchenden - und zahlreiche Bonbons wie rasche Visa-Erleichterungen und Fortschritte bei den EU-Beitrittsverhandlungen.
Warum will die EU erst Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken, nur um danach genauso viele Flüchtlinge von dort aufzunehmen?
Die Regelung soll Flüchtlinge abschrecken, sich Schleusern anzuvertrauen, und sie ermutigen, eine Einreise-Erlaubnis in die EU abzuwarten. „Diejenigen, die illegal die griechischen Inseln erreichen, werden mit Sicherheit nicht zu denen gehören, die als Erste umgesiedelt werden“, sagt Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Diese Menschen würden „bestenfalls am Ende der Schlange“ landen und „wahrscheinlich überhaupt nicht die Chance auf Umsiedlung“ in die EU bekommen.
Wie soll die Auswahl der Flüchtlinge funktionieren, die aus der Türkei in die EU kommen sollen?
Die Details sind offen. Klar ist bislang nur: Es geht lediglich um syrische Flüchtlinge, die nicht gerade erst versucht haben, unerlaubt auf die griechischen Inseln zu gelangen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR könnte die Auswahl übernehmen. Die Organisation Pro Asyl sieht die Eingrenzung auf Syrer sehr kritisch: Sie beklagen, Schutzsuchende aus anderen Staaten würden pauschal benachteiligt.
Wer wird am Ende Flüchtlinge von dort aus aufnehmen? Und bleibt die Aufnahme zum Großteil an Deutschland hängen?
Gut möglich. Die längst beschlossene EU-interne Umverteilung von 160 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland könnte als Grundlage dienen. Der dafür ausgearbeitete Verteilungsschlüssel könnte auch für Syrer in der Türkei angewendet werden. Ungarns Premier Viktor Orban ließ allerdings noch während des Gipfels verlauten, er lehne das Vorhaben ab, der Türkei Flüchtlinge abzunehmen.
Ist es rechtens, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken?
Das ist hochumstritten. UNHCR, aber auch Pro Asyl haben große Zweifel. Entscheidend ist, ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wird, in den die EU Flüchtlinge zurückschicken kann. Eine solche Klassifizierung der Türkei - wie sie Griechenland kürzlich vorgenommen hat - würde nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch EU-Recht widersprechen. Nach der entsprechenden EU-Direktive erfüllt ein Land nur dann die Voraussetzungen, wenn es „die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat“. Das ist bei der Türkei nicht der Fall. Syrer genießen in der Türkei „temporären“ Schutz, können aber kein Asyl beantragen.
Wer zahlt die angedachten drei Milliarden Euro extra für die Türkei?
Einen Teil würden wahrscheinlich die EU-Staaten übernehmen, der Rest würde aus dem EU-Budget fließen. Doch auch dieses wird zum großen Teil aus den Hauptstädten finanziert. Das Geld soll ebenso wie die ersten drei (bereits zugesagten) Milliarden Euro die Lage syrischer Flüchtlinge im Land verbessern. Schon bei der ersten Summe gestaltet sich die Finanzierung sehr schwierig.
Was bringen die Pläne der Türkei?
Die Türkei - die Teil der G20 ist und zu den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern gehört - ist auf die EU-Finanzhilfen nicht angewiesen. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte im Januar, das Geld sei „nur dazu da, den politischen Willen zur Lastenteilung zu zeigen“. Womit die islamisch-konservative Regierung aber wirklich beim Wähler punkten könnte: Visafreie Reisen in den Schengen-Raum.
Können Türken ab Ende Juni visafrei in die EU reisen?
Das ist zumindest das Ziel. Allerdings: Vor dem Gipfel war als Zieldatum noch Oktober angepeilt - und europäische Diplomaten hielten schon diesen Zeitraum für kaum realistisch. Die Türkei muss einen Anforderungskatalog mit 72 Punkten erfüllen, von denen noch viele offen sind.
Wird die Türkei bald Mitglied der EU?
Nein. Zwar soll der Türkei zugesagt werden, dass der Beitrittsprozess beschleunigt wird. Die Türkei ist aber weit davon entfernt, die Aufnahmekriterien zu erfüllen. Mit einer Mitgliedschaft in absehbarer Zeit rechnet keine der beiden Seiten. „Die Beitrittsfrage stellt sich zur Zeit nicht“, erklärt Merkel.
Was passiert nach dem Gipfel nun mit den vielen Flüchtlingen, die derzeit in Griechenland festsitzen?
Vorerst dürfte sich ihre Lage weiter verschlechtern. Laut UNHCR sitzen 13 000 Menschen im Lager von Idomeni an der mazedonischen Grenze fest. 36 000 sollen es in ganz Griechenland sein - und täglich kommen weitere dazu. Mazedonien hält seine Grenze weiter geschlossen, die Balkan-Route ist blockiert. „Die Menschen in Griechenland sitzen in einer Falle“, sagt Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. Es hapere schon an der Versorgung mit dem Allernötigsten. „Das ist menschenunwürdig.“
Wird es am Ende nur neue Fluchtrouten geben?
„Das ist wahrscheinlich“, meint Burkhardt. „Wenn die Ägäis abgeriegelt wird, ist es möglich, dass sich die Routen wieder mehr auf das offene Meer verlagern - und dort mehr Menschen sterben werden.“ Schon in der Vergangenheit haben Flüchtlinge Ausweichrouten gefunden, um Hindernisse zu umgehen. Denkbar wäre etwa, dass sich Flüchtlinge wieder vermehrt über das Mittelmeer nach Italien aufmachen - von der Türkei, aber auch von Nordafrika aus. Auch auf dem Landweg könnten sich Routen verschieben, wenn Menschen versuchen, über Albanien statt Mazedonien aus Griechenland herauszukommen.