Analyse Kanzlerin zwischen Macht und Ohnmacht
Berlin (dpa) - Ob das US-Magazin „Forbes“ Angela Merkel im nächsten Jahr noch einmal zur mächtigsten Frau der Welt kürt? Als die Kanzlerin Anfang November zum siebten Mal in Folge diesen Ehrentitel erhält, scheint die Kanzlerin auf bestem Weg in ihre vierte Amtszeit - trotz des schlechtesten Ergebnisses ihrer Union bei einer Bundestagswahl seit 1949.
Die Jamaika-Sondierungen mit Liberalen und Grünen sind zwar kompliziert, aber selbst FDP-Chef Christian Lindner sagt zu dieser Zeit: „Kein Grund zur Sorge.“ Noch vor Weihnachten, hofft die angeschlagene Kanzlerin, könnten die Verhältnisse in Deutschland wieder geregelt sein. Eine erste schwarz-gelb-grüne Regierung - die Kanzlerin und andere Verhandler sehen die ungewöhnliche Konstellation auch als Schlüssel zur Lösung alter gesellschaftlicher Konflikte.
Am 19. November kurz vor Mitternacht ist dieser Traum vorerst ausgeträumt. Lindner lässt die Jamaika-Sondierungen platzen.
Mit einem Mal wird deutlich, dass die Wähler Merkel am 24. September an die Grenzen ihrer Macht gebracht haben. Ganz Deutschland und die internationalen Partner und Gegner sehen dabei zu, wie Merkel bei ihrer Regierungsbildung taktischen Überlegungen möglicher Partner nahezu ohnmächtig ausgeliefert ist. Und das im wichtigsten und wirtschaftsstärksten Land Europas. Vieles hat sich abgezeichnet.
DAS INTERNATIONALE PARKETT
2017 ist für die kampferprobte Merkel ein Jahr, wie es die Kanzlerin noch nicht erlebt hat. Auf internationaler Bühne kommt ihr bis zur Bundestagswahl die fast unangefochtene Macht zuhause und ihr Ruf als verlässliche Verhandlerin zugute. Ihr Umgang mit schwierigen Staatsmännern wie US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ist international anerkannt.
Auf den Türken Recep Tayyip Erdogan ist sie seit der Flüchtlingskrise 2015 dagegen angewiesen. Kritiker werfen Merkel vor, sie habe sich dem Machthaber vom Bosporus mit dem Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei geradezu ausgeliefert.
Der G20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg wirkt im Rückblick wie ein böses Omen für Merkel. Statt schöner Bilder der Kanzlerin im Kreise der Mächtigen der Welt bestimmen weltweit Szenen von gewalttätigen Chaoten und brennenden Barrikaden die Berichterstattung. Zerstörung gegen Zukunftsentwurf. Merkel kann das nicht gefallen.
DER WAHLKAMPF
Wie oft in den zurückliegenden zwölf Jahren hält sich Merkel im Wahlkampf bei vielen Themen mit konkreten Positionen zurück. Bislang ist sie ja auch gut damit gefahren. Der Kanzlerin stehen vor der Sommerpause eine Menge Koalitionsoptionen offen: Eine Fortsetzung der großen Koalition scheint möglich, Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün, auch ein Jamaika-Bündnis aus CDU, CSU, FDP und Grünen.
Doch das etwas anders ist 2017, zeichnet sich längst ab. Gerade im Osten Deutschlands schlägt ihr oft unverhohlener Hass entgegen. Die Rechtspopulisten von der AfD organisieren Proteste. Unzufriedene versuchen immer wieder, die Kanzlerin niederzubrüllen. Merkel wird das nicht vergessen.
Als der neue SPD-Chef Martin Schulz in Umfragen zu Jahresbeginn einen regelrechten Hype erlebt und etliche in CDU und CSU sich fragen, ob Merkel tatsächlich noch die richtige Kanzlerkandidatin ist, behält sie die Nerven. Überraschend gewinnt die CDU dann die Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und NRW. Merkels Kritiker in den Unionsreihen werden wieder leiser.
DIE BUNDESTAGSWAHL UND DIE FOLGEN
Am 24. September ändert sich für Merkel dann tatsächlich alles - und für das politische Klima in Deutschland sehr viel. Ihre Union fällt auf das schlechteste Wahlergebnis seit 1949, für die CSU sind die Verluste sogar noch schmerzhafter als für die CDU. Auch die SPD stürzt ab. Dafür zieht die AfD mit 12,6 Prozent erstmals in den Bundestag ein. Und von allen Koalitionsmöglichkeiten bleibt für Merkel zuerst nur eine übrig - ein Jamaika-Bündnis mit FDP und Grünen. SPD-Chef Schulz erklärt sofort den Gang in die Opposition.
Vier oft quälende Wochen lang versucht sie, die seit Jahrzehnten in tiefer Abneigung verbundenen Grünen und die CSU an den Gedanken einer Koalition zu gewöhnen. Als diese so unterschiedlichen Pole sich letztlich selbst beim schwierigen Migrationsthema zu einigen scheinen, zieht FDP-Chef Lindner die Notbremse. Er lässt die Verhandlungen platzen.
ZUKUNFT MIT SPD UND SCHULZ?
Die Kanzlerin steht seit Mitte November mit leeren Händen da. Fast drei Monate werkelt die einst als Physikerin der Macht geachtete Merkel nun schon an der Regierungsbildung herum - und noch immer ist eine stabile Regierung nicht in Sicht.
Selbst wenn die zaudernde und zerstrittene SPD der Parteiführung um Schulz Mitte Januar bei einem Parteitag erlaubt, Verhandlungen über die dritte große Koalition Merkels zu starten, bleibt ihre politische Zukunft vorerst ungewiss. Nicht unmöglich, dass am Ende von Koalitionsverhandlungen ein Nein der SPD-Mitglieder steht.
Die Folgen wären nicht absehbar, weder innenpolitisch noch in Europa oder international. Würde Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Kanzlerwahl ansetzen, könnte eine Minderheitsregierung die Folge sein. Die meisten in der Unionsspitze glauben wie Merkel jedoch, dass dann über kurz oder lang eine Vertrauensfrage der Kanzlerin und wohl eine vorgezogene Neuwahl folgen dürften.
Wie reagiert der Wähler? Genervt? Nicht nur in der Union sorgen sich viele, dass ein dickes Plus für die Rechtspopulisten die Folge wäre. Und am Ende könnte die paradoxe Situation stehen, dass Merkel wieder nur die Alternativen GroKo oder Jamaika bleiben. Wenn sie bis dahin nicht selbst die Reißleine gezogen hat oder aus den eigenen Reihen zum Rückzug gezwungen wird. Ihre Gegner, die lieber heute als morgen eine konservativere CDU hätten, werden so oder so keine Ruhe geben.
MERKEL UND DAS BAYERN-DUO
Das schwierige Verhältnis der schwarzen Schwestern CDU und CSU wird auch das neue Jahr belasten. Der Flüchtlingsstreit zwischen Merkel und Horst Seehofer hat schon den Wahlkampf schwer belastet. Beide lassen das Thema schwelen, eine Lösung im Ringen um die vom CSU-Chef verlangte Flüchtlingsobergrenze lassen sie bis nach der Wahl offen. Ein Fehler, wie die CDU-Chefin später einräumt.
Eine CSU-Doppelspitze aus Seehofer als Parteichef und dessen Dauerrivalen Markus Söder als Ministerpräsident dürfte Merkel zudem zusetzen. Gerade vor der bayerischen Landtagswahl im kommenden Jahr werden beide nichts unversucht lassen, das Profil der CSU zu schärfen. Für Merkel eine zermürbende Situation.
MERKEL IM SCHATTEN VON MACRON
In den vergangenen drei Amtszeiten hat Merkel bei fast allen wichtigen Themen in der Europäischen Union den Takt vorgegeben. Ohne sie ging nichts. Das ist jedenfalls vorerst vorbei. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron legt weitreichende Reformpläne für die EU auf den Tisch - doch Merkel muss dazu schweigen, solange der Schwebezustand in Berlin nicht beendet ist.
Dabei ist die EU-Reform nur eine von vielen Baustellen in Europa, auf denen Berlin aktuell eine wichtige Rolle spielen müsste: Brexit und Flüchtlingskrise sind noch lange nicht ausgestanden. Auch bei vielen internationalen Konflikten fällt Merkel derzeit als Stimme mit Gewicht mehr oder weniger aus. Ohne sie sind etwa Fortschritte mit dem Russen Putin in der schwelenden Ukraine-Krise nur schwer denkbar.
Und während Trump „America first“ durchzieht und in Nahost und Nordkorea mit dem Feuer spielt, ist die angeblich immer noch mächtigste Frau der Welt gefesselt, solange die Frage von Macht und Ohnmacht nicht geklärt ist.