Kiews Bücherbasar bringt Russisch und Ukrainisch zusammen
Kiew (dpa) - Es ist ein friedliches Bild. Am Stand von Alexander auf dem Buchmarkt in Kiew liegt ukrainische und russische Kinderliteratur direkt nebeneinander. „Für kleine Kinder werden eher die russischen Bücher gekauft, für ältere ukrainische“, erläutert der Händler.
„In der Schule wird nämlich Ukrainisch gelesen.“ Zweisprachigkeit ist für ihn kein Problem. „Die meisten Kiewer beherrschen beide Sprachen“, sagt Alexander.
Zuhause in der Familie spricht der 60-Jährige Ukrainisch. Bei Kunden wechselt er ins Russische, wenn die ihn auf Russisch ansprechen. So umstritten die Sprachenfrage innerhalb der Ukraine und im Verhältnis zu Russland ist - die Kiewer lösen sie im Alltag pragmatisch. Moskau beklagt eine Diskriminierung ethnischer Russen im Nachbarland und droht nach der Annexion der Halbinsel Krim mit weiteren Schritten.
Alexander, der seinen Familiennamen nicht nennen will, arbeitet seit mehr als 25 Jahren auf dem riesigen Buchbasar im Norden der ukrainischen Hauptstadt. An der U-Bahnstation Petriwka, russisch Petrowka, stehen in überdachten Reihen mehr als 1000 Marktstände. Außer Büchern gibt es Musik, Filme, Software - alles, was auf Datenträger passt. Zwar rufen Plakate am Eingang zum Kampf gegen Raubkopien auf. Doch es ist klar, dass Hollywood oder Microsoft hier nicht groß am Umsatz beteiligt sind.
Der Basar hat auch in den unruhigen Zeiten des Sturzes von Präsident Viktor Janukowitsch normal funktioniert - so wie der Rest der Dreimillionenstadt am Dnjepr ruhig blieb, selbst als auf dem Unabhängigkeitsplatz Schüsse fielen und mehr als 80 Menschen starben. Die Buchhändler haben aber die Politik gespürt: Ihr Umsatz sei seit Januar spürbar zurückgegangen, klagen sie.
Das liegt aber nicht daran, dass die Kiewer nun aus Ärger über die Politik des Kreml keine russischen Bücher mehr kaufen. „Es kamen weniger Kunden von außerhalb“, meint Alexander. Eine andere Händlerin namens Natalja sagt: „Die Menschen wussten nicht, was morgen wird. Da legt man sich nicht gerade teure Bücher zu.“
Dem Augenschein nach haben Bücher auf Russisch ein deutliches Übergewicht auf dem Markt, das Ukrainische ist vor allem mit Schulbüchern und Belletristik vertreten. Roman Lysenko verkauft Wirtschafts- und Computerliteratur. „Bei diesen Themen ist die Auswahl auf Russisch einfach größer.“ Wenn keine Kunden da sind, liest der 23-jährige Programmierer die dicke neue Biografie von Apple-Gründer Steve Jobs in russischer Übersetzung.
Auch Roman sagt, dass seine Muttersprache Ukrainisch sei. „Doch mit meinen Freunden spreche ich Russisch.“ Händlerin Natascha, eine studierte Journalistin, sagt: „Eigentlich ist Kiew eine russischsprachige Stadt.“ Im Stadtbild der Metropole ist Russisch in den 23 Jahren seit der Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepublik zwar verschwunden - Straßenschilder und Reklame sind auf Ukrainisch. Aber wenn man den Leuten zuhört, sprechen sie tatsächlich eher Russisch.
Die Regierung bemüht sich, die Staatssprache zu fördern. Das Bildungssystem des Landes ist weitgehend auf Ukrainisch umgestellt. Aber es gibt auch noch russische Schulen. Und selbstverständlich spielt in Kiew ein großes russisches Theater - sinnigerweise benannt nach der ukrainischen Schriftstellerin Lesja Ukrainka. Mit ihrer liberalen Zweisprachigkeit unterlaufen die Kiewer das Bemühen um Ukrainisierung aber. Ukrainisch gilt nach Umfragen als weniger cool.
Politisch macht das Kiew aber nicht zu einer russischen Stadt - auch wenn der Russlands Präsident Wladimir Putin mit drohendem Unterton die „Mutter der russischen Städte“ erwähnte, als er im Kreml die Annexion der Krim verkündete. Im Gegenteil: Kiew und die Zentralukraine haben bei der Orangenen Revolution 2004/2005 und beim Euromaidan 2013/2014 ihr Gewicht gegen den Moskauer Einfluss in die Wagschale geworfen. Die meisten Hauptstädter, egal welcher Sprache, stehen für eine demokratische und europäische Entwicklung der Ukraine.
Wenn die Russen kämen, müsse er flüchten, sagt ein Kiewer Russe, geboren in Perm am Ural. Aber wohin? Auf dem Basar schwärmt Buchhändlerin Natalja von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit auf dem Euromaidan: „Ich habe zum ersten Mal wahrgenommen, was für großartige Menschen wir in der Ukraine sind.“