Noch tausende Eingeschlossene Letzte Nachricht aus Aleppo: „Haben Gott um Gnade angefleht“

Gaziantep/Aleppo (dpa) - Geschlafen hat Umm Mohammed in der vergangenen Nacht nicht, keine einzige Minute. Eingehüllt in dicken Decken sitzt sie von morgens bis abends auf einer Matratze vor dem Fernseher und verfolgt die Nachrichten über Aleppo.

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Sie hofft, dass es für ihren Sohn Mohammed vielleicht doch noch eine Rettung gibt. Draußen ist das Thermometer in der türkischen Stadt Gaziantep so tief gesunken, dass Schneeregen fällt, die Kälte dringt durch die dünnen Fenster und Wände der unbeheizten Wohnung. Als wäre die Lage für die in die Türkei geflohene Umm Mohammed nicht schon schlimm genug.

Ihr Sohn gehört zu den Zehntausenden Syrern, die in den letzten verbliebenen Rebellengebieten der umkämpften Stadt Aleppo eingeschlossen sind. „Ich bete zu Gott, dass alle gerettet werden“, sagt Umm Mohammed. „Jede einzelne Minute habe ich Angst, dass er getötet werden könnte.“ Sie kann nicht weitersprechen. Tränen rollen über ihre Wangen, die sie mit einem Taschentuch wegwischt.

Das Schicksal hat die Familie hart getroffen. Ein anderer Sohn der 50-Jährigen starb 2014 in Ost-Aleppo durch einen Luftangriff, da war er 19. Ihr Mann sitzt in seinem Heimatdorf in Nordsyrien fest, das von Kurden kontrolliert wird. Und eine Tochter floh aus Aleppos Rebellenvierteln in Regierungsgebiete, nachdem die Armee vorrückte.

Die Nachrichten aus Ost-Aleppo werden immer dramatischer. Wohl Zehntausende sind in nur noch wenigen Vierteln eingeschlossen, schutzlos Kämpfen und Bombardierung ausgesetzt. Wochenlange heftige Luftangriffe haben große Teile des Gebiets zerstört. Mehr als 460 Zivilisten sind seit Mitte November durch Angriffe der Regierung getötet worden. Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung werden immer knapper, weil Ost-Aleppo blockiert wird.

Fotos von Aktivisten zeigen Menschen, die auf der Suche nach Schutz vor der Gewalt durch die Straßen irren. „Der Regen macht alles noch schwieriger“, berichtet Wissam Sarka, ein Englischlehrer aus Aleppo, in einer Audionachricht. Ein anderer Aktivist schreibt, das Gebäude nebenan sei von einem Luftangriff getroffen worden. Tote lägen unter den Trümmern. Es gebe niemanden mehr, der sie bergen könnte.

Mit ihrem Sohn kann Umm Mohammed nur über Textnachrichten kommunizieren, und was er berichtet, verheißt nichts Gutes. „Hölle“ nennt er Ost-Aleppo, wo er zu Freunden geflohen ist. Es gebe kaum Platz, das Gebäude sei voller Flüchtlinge. „Hier sind viele Frauen, Kinder und Alte, die hinausgebracht werden müssen“, schreibt er. „Aber wegen der Tötungsmaschine (des Regimes) gibt es keinen Weg.“ Machen könnten sie nichts mehr: „Wir haben Gott um Gnade angefleht.“

Wer in den schrumpfenden Rebellengebiete zurückgeblieben ist, rechnet mit dem Schlimmsten. Darunter sind viele oppositionelle Aktivisten, Feinde des Regimes. Die UN berichteten von Hunderten Männern, die nach ihrer Flucht in Regierungsgebiete verschwunden sind, Schicksal unbekannt. Aktivisten befürchten, sie könnten in Folterhaft sitzen oder gleich zur Armee eingezogen werden. Regierungstruppen sollen nach Angaben der UN zudem mindestens 82 Zivilisten getötet haben.

Mohammed floh einst vor dem Wehrdienst nach Ost-Aleppo. Dort arbeitete er lange als Pfleger in einem Krankenhaus. Grund genug, dass das Regime auch ihn festnehmen könnte. „Wenn ich in ihre Hände falle, dann wünsche ich mir den Tod“, schreibt Mohammed. „Weil sie mit uns Dinge machen werden, die unvorstellbar sind.“

Aus den Nachrichten, die aus Aleppo kommen, spricht nur noch wenig Hoffnung auf Rettung. Und sie wird von Stunde zu Stunde kleiner. „Es gibt keinen Zufluchtsort mehr“, berichtet der Aktivist Abdulkhafi al-Hamdo in einer Videonachricht aus den Rebellengebieten, wo er bis jetzt mit Frau und kleiner Tochter ausgeharrt hat.

Der Regen prasselt während Al-Hamdo spricht. Seine Nachricht hat er „Letzter Ruf“ genannt, und seine Worte klingen nach Abschied von dieser Welt. „Wir erleben eins der schlimmsten Massaker in der neueren Geschichte“, sagt Al-Hamdo, dem immer wieder die Stimme stockt. „Wir wollten nichts anderes als Freiheit.“ Aktivisten wie er machen für ihr Schicksal nicht nur das Regime und seinen Verbündeten Russland verantwortlich, sondern auch den Rest der Welt, von dem sie sich im Stich gelassen fühlen: „Glaubt den Vereinten Nationen nicht mehr“, sagt er. „Glaubt der internationalen Gemeinschaft nicht mehr.“

Während das Leiden in Ost-Aleppo immer größer wird, ziehen im Regierungsteil Dutzende auf die Straße, um den Erfolg der Armee zu feiern. Sie schwenken Fahnen ihres Landes und der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah, ein wichtiger Verbündeter des Regimes. Umm Mohammed hat dafür nur Verachtung übrig: „Was für einen Sieg feiern sie denn? Das ist ein Sieg gegen ihr eigenes Volk.“

Am Abend dann keimt bei Umm Mohammed Hoffnung auf. Plötzlich kommt eine Nachricht, mit der kaum noch jemand gerechnet hat: Das Regime und seine Gegner einigen sich auf einen Abzug der Rebellen, auch Zivilisten sollen die Stadt verlassen dürfen. Umm Mohammed hat Freudentränen im Gesicht, als sie diese Meldung im Fernsehen hört. Erleichtert kann sie aber erst sein, wenn ihr Sohn in Sicherheit ist.