Urteil gegen Schlepper Das Sterben im Mittelmeer geht weiter
Catania (dpa) - Nur zwei Kilometer trennen den Justizpalast und den Hafen von Catania auf Sizilien. Kurz nachdem an der Anlegestelle am Morgen 678 Migranten ankommen, gerettet aus schiffbrüchigen Booten auf dem Mittelmeer, fällt im Gericht das Urteil gegen zwei Schlepper.
Die Richter sehen es als erwiesen an, dass die beiden jungen Männer Verantwortung tragen für die schwerste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer im April 2015. Als das völlig überfrachtete Boot damals sank, ertranken Hunderte Menschen.
Der 28 Jahre alte Kapitän soll falsch manövriert haben, als sich der Fischkutter von der libyschen Küste in Richtung Europa aufmachte. Etwa 130 Kilometer vom Festland entfernt kenterte das Schiff. Als ein portugiesischer Frachter zu Hilfe kommen wollte, stürmten die Migranten auf eine Seite des Bootes. Es kippte. Nur 28 Menschen überlebten das Unglück, das Teil und Symbol der großen Tragödie ist, die seit 2014 mindestens 10 000 Menschenleben gekostet hat. Das Sterben im „Mare Nostrum“, wie die Römer das Mittelmeer nannten, nimmt kein Ende. 2016 war nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) das tödlichste Jahr.
Doch was kann ein Urteil ausrichten gegen zwei einzelne Männer, während Schlepperbanden weiter am Leid der Flüchtlinge verdienen? „Es ist ein erster Schritt“, sagt IOM-Sprecher Flavio Di Giacomo. „Es ist wichtig zu zeigen, dass die Schiffbrüche Folgen von Verbrechen sind und nicht von der Laune der Natur verursacht werden. Wir leben in einem Land, in dem Schmuggler immer noch ihre Arbeit verrichten können, deswegen ist es wichtig zu zeigen, dass man bestraft werden kann, dass man für viele, viele Jahre ins Gefängnis kommt, wenn man Menschen auf überfüllte Boote zwingt.“
Aus Sicht von Staatsanwalt Carmelo Zuccaro ist das Urteil aus mehreren Gründen wichtig: Es setze fest, dass Italien die Gerichtsbarkeit über Menschenschmuggel in internationalen Gewässern habe, vorausgesetzt die Schlepper haben einen Notruf auf dem Meer abgesetzt. Und dass die normalen „Passagiere“ auf Flüchtlingsbooten als Leidtragende eingestuft werden müssten, nicht als mögliche Verdächtige.
Der Kapitän des Fischkutters, ein Tunesier, wird wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung, Herbeiführens eines Schiffbruchs und Menschenschmuggels zu 18 Jahren Haft verurteilt. Sein 26 Jahre alter Helfer aus Syrien nur wegen Menschenschmuggels. Das Gericht verhängt außerdem millionenschwere Geldstrafen. Die Verteidigung will in Berufung gehen. Die beiden Männer hatten ihre Unschuld beteuert.
Eine Mitschuld am Sterben im Mittelmeer trägt aus Sicht vieler die Asylpolitik der EU. Legale und sichere Fluchtwege fehlen - das füllt die Geldbeutel der Schleuser, so der Vorwurf. Immer wieder appellieren Flüchtlings- und Hilfsorganisationen oder Kirchenvertreter an Brüssel, Berlin und andere EU-Länder und fordern ein Umdenken. Weg von Abschreckungsmaßnahmen und Abkommen zur Grenzsicherung hin zur Vergrößerung von Aufnahmekapazitäten, zu einer menschenwürdigen Unterbringung und einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge.
Die Mahnungen scheinen gar nicht mehr gehört zu werden, so oft wurden sie schon ausgesprochen. Die Meldungen über die Toten sind einige unter vielen und nichts mehr, was für großes Entsetzen sorgt. Viele Menschen in Deutschland sind sich der Lage der Flüchtlinge nicht einmal bewusst, wie eine Umfrage für die Seenotrettung MOAS kürzlich zeigte. Jeder Vierte der Befragten geht sogar davon aus, dass mittlerweile weniger Menschen auf der Flucht ihr Leben lassen. Die Lage an den deutschen Grenzen hat sich in der Tat entspannt. Aber von einer Entspannung der Flüchtlingskrise kann keine Rede sein.
An Italiens Küsten kamen von Januar bis November nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex mehr als 173 000 Menschen an - ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum. Allein im November waren es viermal so viele wie im November 2015. Für die Jahreszeit ist das ungewöhnlich - je näher der Winter kommt, desto rauer die See.
„Wenn die Menschen Angst bekommen, werden sie auf die Boote gezwungen. Wenn du einmal bezahlt hast, kannst du nicht mehr zurück“, sagt Di Giacomo. Die Schlepper würden immer gewalttätiger, die Flüchtlinge berichteten von Missbrauch. „Menschen, die Männern, Frauen und Kindern dieses Leid zufügen, sind Kriminelle, sie müssen verfolgt, gefunden und identifiziert werden.“
Das Wrack vom April 2015 wurde mittlerweile vom Meeresgrund gehoben. Wissenschaftler haben Fotos und Daten über die Toten gesammelt, um wenigstens einigen der meist namenlosen Opfer ein Gesicht zu geben. Die Auswertung der Daten ist noch nicht abgeschlossen. Es gibt auch noch keine genaue Zahl der Todesopfer. Das Gericht spricht von mehr als 700. Bei der Marine hieß es nach der Bergung des Schiffes sogar, dass zwischen 800 und 900 Flüchtlinge starben. Dass Verantwortliche für die Katastrophe nun verurteilt wurden, ist kaum ein Trost für die Angehörigen. Vorbei ist das Sterben im Mittelmeer noch lange nicht.