Merkels Spagat: Kanzlerin gibt Erdogans Drängen nach
Berlin (dpa) - Die Termine vor der blauen Wand im Kanzleramt sind für Angela Merkel Routine. Zu normalen Zeiten steht sie hier mehrmals die Woche, meist mit Gästen. Am Freitag stand sie dort allein. Ganz in Grau-Schwarz, eingerahmt nur von vier deutschen und zwei europäischen Flaggen.
Und sie wirkte nicht so, als ob ihr bei diesem Auftritt besonders wohl sei: die Miene ernst, der Atem kurz, die Hände am Papier viel zu beschäftigt.
Fast fünf Minuten lang begründete die Kanzlerin einen argen politischen Spagat - warum sie trotz vieler Bedenken die deutsche Justiz nun doch ermächtigt, gegen den TV-Moderator Jan Böhmermann wegen seines Gedichts über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorzugehen. Merkel ist lange genug in der Politik, um zu wissen, dass dies eine der umstrittensten Entscheidungen ihrer Amtsjahre bleiben wird.
Vorsichtshalber sprach die Kanzlerin nicht frei, sondern las eine Erklärung vor, die mit all ihren Experten bis aufs letzte Wort politisch abgewogen und juristisch ausgefeilt war. Der entscheidende Satz: „Im Rechtsstaat ist es nicht Sache der Regierung, sondern von Staatsanwaltschaften und Gerichten, das Persönlichkeitsrecht und andere Belange gegen die Presse- und Kunstfreiheit abzuwägen.“
Das ist zum einen die offizielle Begründung, warum Berlin die Strafverfolgung erlaubt. Erdogan darf den Satz aber auch als deutliche Aufforderung verstehen, sich an demokratische Grundrechte zu halten, wie dies anderswo in Europa selbstverständlich ist. Zumal Merkel auch noch ihre „große Sorge“ über das Vorgehen der türkischen Behörden gegen Medien und einzelne Journalisten äußerte.
Aber allen Worten der Erklärung zum Trotz: Was mit einem harmlosen Liedchen in einer anderen Satiresendung im dritten Programm über den „Boss vom Bosporus“ begann, hat sich für Merkel zu einer Staatsaffäre entwickelt. Das „Schmähgedicht“, das Böhmermann Ende März im sonst wenig beachteten Spartensender ZDFneo zum Besten gab, brachte sie in enorme Schwierigkeiten. Erdogan - Merkels wichtigster Partner in der Flüchtlingskrise - zeigte sich dadurch schwer gekränkt.
Fast einen halben Monat lang wägten Merkel und die anderen Spitzenleute der großen Koalition das Für und Wider einer „Ermächtigung“ ab, Presse- und Meinungsfreiheit gegen politische Interessen. Mit jedem Tag wurde klarer, wie schwer sich Union und SPD mit der Entscheidung taten. Aus dem Umfeld von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hieß es dann schon am Dienstag: „Wir sind skeptisch, ob das Strafrecht der richtige Weg sein kann.“
Am Mittwoch war die Affäre Thema im Kabinett und abends auch beim Koalitionsgipfel. Angeblich machte die Kanzlerin ihre Haltung der SPD erst an diesem Tag bekannt. Schließlich stimmten Merkel und Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU) für die Ermächtigung, Steinmeier und Justizminister Heiko Maas (beide SPD) dagegen. 2:2 also. Bei Stimmengleichheit hat nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung die Kanzlerin das letzte Wort.
Auf die Meinungsverschiedenheiten ging Merkel in ihrer Erklärung nur kurz ein. Es habe „unterschiedliche Auffassungen“ zwischen den Koalitionspartnern gegeben. Kurz darauf trat auch Steinmeier vor die Presse, zusammen mit Maas. „Wir sind der Auffassung, dass die Ermächtigung nicht hätte erteilt werden sollen.“ Steinmeier fügte als Zeichen an den größeren Koalitionspartner aber auch hinzu, dass es für beide Sichtweisen „gute Gründe“ gebe. Zu einer neuen Koalitionskrise soll das Thema jetzt nicht auch noch werden.
Davon unabhängig sind viele der Meinung, dass die Entscheidung ohne die Flüchtlingskrise und die neue Sonderrolle der Türkei ziemlich sicher anders ausgefallen wäre. Ende nächster Woche fliegt Merkel übrigens schon wieder dorthin, dieses Mal zusammen mit den Spitzen der EU.
Völlig einig ist sich die Koalition darin, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholen soll. Merkel gab bekannt, dass der Strafrechts-Paragraf 103, mit dem ausländische Staatsoberhäupter in Deutschland vor Beleidigung besonders geschützt sind, bis 2018 abgeschafft wird. Die Schutzvorschrift, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, sei „für die Zukunft entbehrlich“.
Allerdings droht in den Beziehungen mit der Türkei schon die nächste Belastungsprobe: Anfang Juni, noch vor der Sommerpause, wird sich der Bundestag mit einer Entschließung befassen, in der die Gräuel an den Armeniern vor 100 Jahren mit bis zu 1,5 Millionen Toten als Völkermord eingestuft werden sollen. Die Bundesregierung hat eine solche Festlegung bisher weitgehend vermieden - vor allem wohl aus Rücksicht auf die Türkei, den Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs.
Falls Deutschland künftig ganz offiziell eine andere Einschätzung vertritt, dürfte Erdogans Reaktion nicht lange auf sich warten lassen. Und Merkel dürfte dann um eine neue Erklärung nicht herumkommen.